Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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17JUN2020
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„Dynamisch warten, aktiv sitzen, entschlossen schlafen“. Auf einer Hauswand in Berlin habe ich diese Worte als Graffiti gesehen. Es gefällt mir sehr gut. Nicht nur weil es sich auf den ersten Blick liest wie eine Aufforderung zum Faulenzen: Warten, sitzen, schlafen. Lass ich mich aber nur ein wenig auf diesen Spruch ein, dann merke ich welche Wahrheit in ihm steckt, die Wahrheit von Widersprüchen.                                                                         Im dynamischen Warten zum Beispiel. Wer wartet ist doch das gerade nicht: Dynamisch, aktiv, produktiv. Doch! Schon der Volksmund sagt „Wer warten kann, hat viel getan“. Weil beim Warten Dinge reifen können. Weil ich nichts überstürze und den Dingen, anderen Menschen oder mir selbst Zeit lasse.

Wie auch beim aktiven Sitzen. Wenn mein Körper ruht, wenn ich das Rennen mal sein lasse und mal für einen Moment stillsitze, bin ich aktiv, weil sich mein Körper erholt. Und als schöner Nebeneffekt besonders da oft gute Gedanken oder Ideen entstehen. Dieses Ruhen ist eine Vorstufe des Schlafens. Aber wie soll ich um Gottes Willen entschlossen schlafen können? Dritter und letzter Teil des Graffiti’s. Wo man sich dem Schlaf doch möglichst ruhig und willenlos anbieten soll, wie einem zahmen Vogel die Hand, damit er auf sie hüpft. Ich denke zur Entschlossenheit beim entschlossenen Schlafen gehört, den Tag konsequent zurück zu lassen. Mit den Kleidern auch all die Dinge zurücklassen, die noch zu tun wären. Und möglichst auch die Gedanken und Sorgen, morgen ist auch noch ein Tag. Entschlossen schlafen, aktiv sitzen, dynamisch warten – Widersprüche sind wichtig. Distanz und Nähe in Beziehungen, Lachen und Weinen in der Familie, Glauben und Zweifel in der Religion, Freude und Schmerz in Freundschaften, Sonne und Regen, Wärme und Kälte in der Natur. Widersprüche sind wichtig, weil sie eine tiefe Wahrheit unserer Existenz deutlich machen: Wir können hier auf dieser Welt nicht ohne Brüche oder Widersprüche leben. Wir bekommen hier nicht die volle Fülle dauerhaft. Warm, weich, wattig, für immer - das gibt es ja vielleicht drüben in der anderen Welt. So schmerzlich diese Widersprüche auch manchmal sind, sie haben auch was Gutes: Sie schaffen unser Realitätsbewusstsein, sie lehren uns so zu leben, dass wir uns nicht in den Extremen verlieren. Und sie verbinden uns. Wir können sie teilen, wir können sie mitteilen und wenn nötig: mittragen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31075
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