Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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09NOV2019
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Am 9. November 1938 brannten in Deutschland die Synagogen. Die Nationalsozialisten hatten dazu aufgerufen. Und viele sind dem Aufruf gefolgt, haben mitgemacht. Indem sie selbst Scheiben eingeschlagen und Brandsätze geworfen haben. Auch ganz normale deutsche Bürger waren beteiligt. Nicht nur die SA und die SS. Sie haben an jenem Abend Kultgegenstände des jüdischen Gottesdienstes auf die Straße geworfen, Juden gedemütigt, geschlagen und verschleppt. Und viele haben dazu geschwiegen, weggeschaut. Ganz bewusst. Auch Christen haben so getan, als ginge sie das nichts an. Was sich dann in den folgenden Jahren ereignet hat, ist das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte. Eine Katastrophe und ungeheure Schande, für die ich mich schäme. Als Deutscher, als Christ. Deshalb gehöre auch ich zu denen, die sich nach wie vor schwer tun, das Wort „Jude“ zu benützen. Es liegt mit schwer auf der Zunge und verkantet sich regelrecht, als ob ich nicht einmal das Recht dazu hätte, es auszusprechen.

Dieses Gefühl verstärkt sich. Fassungslos habe ich verfolgt, wie ein Rechtsradikaler in Halle aus Hass gegen Juden zwei Menschen ermordet hat. Ich sehe, dass nun wieder Polizisten vor den Synagogen in unserm Land patrouillieren müssen, rund und die Uhr. Es ist notwendig, weil der Antisemitismus alles andere als ausgerottet zu sein scheint. Angriffe auf jüdische Einrichtungen und Personen sind deutlich mehr geworden; das weist der jüngste Bericht des Bundeskriminalamtes aus. Und signalisiert damit allen Juden in Deutschland: Ihr seid hier nicht selbstverständlich in Sicherheit. Wir müssen euch schützen. Die normalen Spielregeln des Zusammenlebens funktionieren nicht mehr. Mit dem sozialen Frieden ist’s vorbei.

Ich hätte das bis vor kurzem nicht für möglich gehalten. Weil ich davon ausgegangen bin, dass wir Deutsche etwas aus unserer Geschichte gelernt haben. Manche offenbar nicht. Das schockiert mich. Und ich möchte etwas tun. Jetzt. Nicht erst, wenn’s zu spät ist. Mein christlicher Glaube hat jüdische Wurzeln. Jesus war ein Jude. Darüber spreche ich mit meinen Schülern im Religionsunterricht. Ich zeige ihnen die Stellen im Neuen Testament, wo Jesus sich ausdrücklich um die kümmert, die eben nicht den gleichen Glauben haben wie er. Und uns empfiehlt, es auch so zu machen. Ich behandle auch die NS-Zeit, das Schweigen der Kirche, und erzähle meinen Schülern von den Mutigen, die Juden versteckt und ihnen das Leben gerettet haben.

Es gibt keinen Grund, einen anderen Menschen wegen seines Glaubens zu verfolgen, ihm nach dem Leben zu trachten. Wer das tut, verstößt gegen Gottes Gebote und die Gesetze der Menschen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=29692
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