Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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26OKT2019
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Manchmal ist es zum Verrücktwerden. Menschen erfahren bitteres, unsägliches Leid. Einzelne, Hunderte Tausende. Die Nachrichten sind jeden Tag voll davon. Aber die Katastrophen dieser Welt lassen sich nicht in Zahlen und Statistiken einfangen. Sie betreffen Menschen aus Fleisch und Blut – haben ein Gesicht, einen Namen – und diese Katastrophen sind längst nicht vorüber, wenn die Medien und der Rest der Welt wieder zur Tagesordnung übergehen.

„Wo bist du Gott in all dem Elend?“, frage ich mich. Ich weiß, dass ich in diesem Leben keine eindeutige Antwort auf diese Frage bekommen werde. Trotzdem hoffe ich, dass er mittendrin ist. Dass er da ist, wenn ein Mensch leidet. Dass er mit uns fühlt. Sehr bewegt hat mich die Tagebuchnotiz einer jungen Frau, Etty Hillesum. Sie ist 1943 in Auschwitz ermordet worden. Sie schreibt:

„Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute Nacht geschah es zum ersten Mal, dass ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkel lag und viele Bilder menschlichen Leidens an mir vorbeizogen. Ich will dir helfen Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher; dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir letzten Endes uns selbst.

Es ist das einzige worauf es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir helfen, dich in den Herzen der gequälten Menschen auferstehen zu lassen.“ (Etty Hyllesum, Das denkende Herz, S. 149, Hamburg 1985)

Mir blieb fast die Luft weg, als ich diesen Text zum ersten Mal gelesen habe. Da zweifelt ein Mensch, ohne zu verzweifeln. Eine Frau hält fest an Gott wie einst der sprichwörtliche Dulder Hiob und ringt gleichzeitig mit ihm. „Es ist das einzige worauf es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten“.

„Ein Stück von dir in uns selbst zu retten“, das heißt für mich: Gott ist bei uns

– da, verlässlich, immer. Genau wie er will ich versuchen, einfach da zu sein, wo es schwer ist - auszuhalten mit Trauernden, da zu bleiben, wo es zum Davonlaufen ist, oft sprachlos. Güte wagen, selbst wenn sie belächelt wird. Berührbar und verwundbar sein und dabei den Glauben an das Gute und Schöne in der Welt nicht verlieren.

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