Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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24OKT2019
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„Oktobermissmut“ – als ich dieses Wort in einem Kalender gelesen habe, musste ich erst einmal schallend lachen. Auf was die Leute alles kommen.

Oktobermissmut, das muss dir erst einmal einfallen. Matthias Politycki hat so einen Text überschrieben, den ich Ihnen heute Morgen mit in den Tag geben möchte:

 

Oktobermissmut

Ach, da ist er ja wieder, der Generalverdacht, dein Leben

sei vollkommen sinnlos und überflüssig,

was auch immer du die restlichen Jahre noch damit anstellen wirst.

Und dann, sagen wir so gegen vier,

hebst du nochmal kurz den Kopf

und blickst in eine riesige Baumkrone,

wie sie dir rostbraungoldgelb beblättert,

alles in allem schon fast orange,

von der tiefstehenden Sonne in deinem Rücken

bis in die feinste Verästelung perfekt ausgeleuchtet

vor einem stahlblauen Himmel mit stahlgrauen Wolken,

so mächtig filigran entgegenstrahlt

dass du stehenbleibst. Mit soviel Schönheit

hattest du gar nicht mehr gerechnet.

Und da ist sie dann plötzlich wieder,

die große Gewissheit, dein Leben,

was auch immer kommen möge und wann,

sei wichtig und wunderbar. (Matthias Politycki, Dies irre Geglitzer in deinem Blick, Hamburg 2015)

Ich finde ein genialer und tiefgründiger Text. Mit einer überraschenden Kehrtwende.

Dieser Oktobermissmut kommt mir sehr bekannt vor. Auch ich stelle gerade so manches in Frage. Bin müde geworden. Und vielleicht geht es ja nicht nur mir so in dieser Lebensphase zwischen Mitte und Ende fünfzig. Ich weiß, dass das Leben nicht mehr vor mir liegt, sondern ein großer Teil davon bereits hinter mir. Ja der Sommer ist vorbei… und die Vorstellung, dass es auch auf meiner Lebensuhr bereits Oktober sein könnte, macht mich traurig bis nachdenklich.

Hilfreich und aufrüttelnd finde ich den überraschenden Schwenk im Text von Politycki:

„…und dann, sagen wir so gegen vier, hebst du noch einmal kurz den Kopf…und blickst in eine riesige rostbraungoldgelb beblätterte Baumkrone.“

Bevor es sozusagen Abend wird, hilft es, den Kopf zu heben, die Augen aufzumachen, aufzuschauen und wahrzunehmen was ist. Was gut ist und schön. Was ich nicht machen kann, was mir geschenkt wird.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=29636
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