Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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21AUG2019
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Morgens, gleich beim Aufwachen sind sie wieder da – die Sorgen. Manchmal jedenfalls. Sogar beim Beten fallen mir nur die Sorgen ein. Ich klage. Ich bitte um Hilfe.

Dabei – wenn ich genau hinschaue - sieht mein Leben doch über weite Teile anders aus. Zum Glück. Es gibt viele freundliche Begegnungen, verlässliche Beziehungen, Menschen, die ich liebe, vieles gelingt. Menschen loben, was ich tue, Kollegen unterstützen mich. In der Familie halten wir zusammen. Ich habe viel Grund, dankbar zu sein. Eigentlich geht es mir gut. Anscheinend aber haben Menschen diesen Normalfall ihres  Lebens schon immer gern vergessen. Für das Gute im Leben danken – das vergisst man leicht. Und wird überwältigt von Sorgen und von den Schreckensnachrichten aus aller Welt.

Deshalb gibt es schon in den Gebeten der Bibel immer wieder diese Erinnerung: „Vergiss nicht, was Gott dir Gutes getan hat! Lobe den Herrn, meine Seele!“ (Psalm 103) Ich stelle mir vor, wie da eine Seele verängstigt und sorgenvoll und bekümmert vor sich hin starrt, nur noch den Kummer sieht, die Ungerechtigkeit, die Gewalt. Und der Mensch stupst sie gewissermaßen an, ermuntert sich selbst: Sieh doch, wie gut es dir geht! Sieh doch, wie schön diese Sommertage sind. Schau, was dir in dieser Woche gelungen ist. Was Gott dir geschenkt hat. Zu allen Zeiten waren anscheinend solche Erinnerungen nötig. Sogar im entsetzlichen 30jährigen Krieg hat Paul Gerhardt gedichtet: „Geh aus mein Herz und suche Freud…“ und mit seinem Lied an sich selbst und an andere appelliert:  Rausgehen und suchen! Schaut an, was es da gibt und was zum Vergessen zu schade ist!

„Jetzt habe ich mir vorgenommen jeden tag drei sachen zum loben zu finden“, schreibt die Theologin Dorothee Sölle in einem ihrer Gedichte; und weiter: „Dies ist eine geistlich-politische Übung von hohem gebrauchswert“.

Das gefällt mir. Ich will das probieren. Ich möchte eine von den Leuten sein, die wirklich hinschauen und differenzieren, die besonnen und ruhig überlegen, was ich tun kann für unsere Welt. Die nicht immer noch mehr rausholen wollen aus dem Leben - und damit verbrauchen, worauf andere nach uns angewiesen sind. Wer dankbar sein kann, kann sich besser begrenzen und kann leichter abgeben und mit denen teilen, die weniger haben.

Wer dankbar sein kann, kann auch seine persönlichen Sorgen begrenzen und besonnen mit ihnen umgehen. Auch deshalb: „Lobe den Herrn meine Seele“, vergiss das Gute in deinem Leben nicht -  so beginnt der Tag gleich besser.

Dorothee Sölle, Fliegen lernen. Gedichte, Wolfgang Fietkau Verlag, Berlin 1979, S. 7

 

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