Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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08AUG2019
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Was kann man mit einem Tag alles anstellen! Ich kann ihn verschlafen, ihn vollpacken, ihn genießen oder was auch immer. „Carpe diem“ hat eine Freundin darum kunstvoll auf einen Kieselstein geschrieben, denn sie mir geschenkt hat. „Carpe diem“: Das ist lateinisch und bedeutet „Nutze den Tag!“ Wobei ich noch mehr mit dem Spruch anfangen kann, wenn man ihn ganz wörtlich übersetzt. „Pflücke den Tag“, heißt es nämlich eigentlich. Ich habe als Kind gern geholfen, wenn an Omas Apfel- und Birnbäumen das Obst reif war. Dann haben wir behutsam mit einer Stange am Baum geschüttelt –nicht zu wild, damit nicht Äpfel herunterfallen, die noch nicht so weit sind. Bei empfindlichen Sorten sind wir auf die Leiter geklettert und haben gepflückt. Ganz behutsam, Stück für Stück. Das hat gedauert.

Den Tag „pflücken“ – das finde ich ein schönes Bild. Ich glaube, das hat etwas damit zu tun, sich Zeit zu nehmen. Und nicht möglichst schnell möglichst viel zu erledigen. Den Tag pflücken, das beginnt damit, dass ich ihn wertschätze. Ich will ihn wie ein Geschenk aus Gottes Hand nehmen. Auch wenn mich nicht alles begeistert, was ich heute erlebe, manches anstrengend, ärgerlich oder traurig ist: Es ist ein Tag meines Lebens.

Heute ist mein Tag. Den nehme ich so ernst, dass ich nicht nur im gestern lebe und finde, früher war alles besser. Und ich nehme ihn so ernst, dass ich nicht nur an übermorgen denke, und an das, was ich mir erträume oder was ich befürchte.  Ich lebe heute. Heute ist ein Tag, den ich pflücken kann. Stunde um Stunde.

Ich pflücke, was mich heute aufbaut. Ich will nicht achtlos vorübergehen an dem, was gut und schön ist. Nein, ich will es wahrnehmen, auch wenn es vielleicht nur eine Kleinigkeit ist. Also pflücke ich: Den Geruch der ersten Tasse Kaffee, eine Melodie, einen Sonnenstrahl, ein freundliches Wort.

Ich will auch wahrnehmen, was mir heute nicht gelingt. So etwas passiert beim Pflücken, gerade wenn die Zeit noch nicht reif ist. Vielleicht kann ich etwas daraus lernen. Und sei es, mit meinem Ärger umzugehen, oder mit meiner Ungeduld.  

Heute ist mein Tag. Ich muss nicht alles in diesen Tag reinpacken. Denn mein Leben hat viele Tage. Den heute will ich heute pflücken.

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