Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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18JUL2019
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Ein Berg von Wäsche türmt sich im Wäschekorb. Das war heute Morgen das Erste, was ich im Bad gesehen habe. Doch dann kam mir der Gedanke, dass das ja auch ein Zeichen dafür ist, dass ich auf jeden Fall genug zum Anziehen habe.

In der Psychologie nennt man das Reframing. Das heißt übersetzt, etwas „neu umrahmen“ oder auch umdeuten. Also: Dinge mal in einem anderen Zusammenhang sehen. 

Ich weiß von mir, dass ich manchmal nur einen bestimmten Ausschnitt sehe, den ich – bildlich gesprochen – einrahme. Sei es das Chaos in der Wohnung oder der Berg von Arbeit, der sich auf meinem Schreibtisch türmt. Sich auf eine Sache zu konzentrieren ist zwar oft hilfreich, damit ich mich in der komplexen Welt irgendwie zurechtfinde. Doch manchmal sehe ich dann eben nur die negativen Aspekte. Was um den Rahmen herum ist, blende ich einfach aus. Aber ich weiß, dass es dabei nicht bleiben muss. Ich kann diesen Rahmen verschieben und so mehr von dem Leben sehen, das es auch gibt. Eine Geschichte bringt das ganz wunderbar auf den Punkt. 

Eines Tages kam ein Professor in die Klasse und schlug einen Test vor. (…) Zur Überraschung aller gab es keine Fragen – nur einen schwarzen Punkt in der Mitte der Seite (…) und die Aufgabe: „Ich möchte Sie bitten, das aufzuschreiben, was Sie dort sehen.“ (…)

Am Ende der Stunde sammelte der Professor alle Antworten ein und begann sie laut vorzulesen. Alle Schüler (…) hatten den schwarzen Punkt beschrieben – seine Position, (…) sein Größenverhältnis zum Papier usw.

Nun lächelte der Professor und sagte: „(…) Niemand hat etwas über den weißen Teil des Papiers geschrieben. Jeder hat sich auf den schwarzen Punkt konzentriert – und das gleiche geschieht in unserem Leben. Wir haben ein weißes Papier erhalten, um es zu nutzen und zu genießen, aber wir konzentrieren uns immer auf die dunklen Flecken.“  

Ich habe gemerkt, dass es manchmal ganz leicht ist, den Rahmen ein wenig zu verschieben und nicht nur die schwarzen Punkte einzurahmen. Denn das Chaos in der Wohnung heißt ja auch, dass ich ein Dach über dem Kopf habe und der Arbeitsberg auf meinem Schreibtisch, dass es mir heute nicht langweilig wird. 

Natürlich lässt sich nicht alles einfach umdeuten. Ich bin traurig, wenn ein Mensch stirbt. Krieg bleibt Krieg und ungerechtes Verhalten wird durch einen größeren Rahmen auch selten gerechter. Und doch gibt es neben den schwarzen Punkten in meinem Leben noch viel Anderes, viel weiße Fläche, die meinen Blick verdient und wofür ich dankbar sein kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=29032
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