Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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10MAI2019
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„Was bist Du?“ Ich finde es spannend, wie Menschen ihre Identität beschreiben. Wir sind es fast ganz selbstverständlich gewohnt, Menschen über ihren Beruf, ihre Herkunft oder ihre Religion zu definieren. Jemand ist Lehrer, Arzt, Metzger, Christ, Muslim oder Atheist. Offensichtlich brauchen wir solche Kategorien, um Menschen eindeutig zuordnen zu können. Ich habe zwei Staatsbürgerschaften. Ich werde oft gefragt: „Fühlst Du Dich eher als Deutscher oder als Franzose?“ Lange habe ich gedacht, dass es ein Mangel ist, nur halb Deutscher und halb Franzose zu sein. Inzwischen weiß ich: Es ist ein Reichtum, sowohl Deutscher als auch Franzose zu sein.

Dass die Herkunft aus einer bestimmten Gegend oder die Abstammung einen Menschen definiert, kennt man von früher. Oder dass die Sprache verrät, wo einer herkommt. Aber über eine Nationalität einen Menschen zu definieren, das ist relativ neu. Den Gedanken der modernen Nation gibt es erst seit der Französischen Revolution. In Europa war vor gut 230 Jahren die neue Erfahrung: Könige und andere Fürsten haben ausgedient. Macht und Politik wird nicht mehr vererbt. Untertanen sind nicht länger Spielbälle persönlicher und wirtschaftlicher Interessen einzelner. Seit der Aufklärung geht es in Europa um das Miteinander der Menschen, die in einem Land leben. Mündige Bürger wurden zum Ideal. Heute gehen wir ganz selbstverständlich von aktiven und passiven Wahlrechten aus, für alle Geschlechter, für Minderheiten. In der freiheitlichen Demokratie ist der Bürger souverän, besitzt Rechte und Pflichten. Erwachsene Menschen dürfen weder bevormundet noch unterdrückt werden. Das entspricht dem christlichen Menschenbild.

Ich träume von einer noch gerechteren Welt. Einer Welt, in der nicht die Herkunft, die Hautfarbe, das Geschlecht, die Religion oder der Intelligenzquotient über den Wert und das Aufenthaltsrecht eines Menschen entscheiden. Nicht der Beruf oder das Vermögen. Ich träume von einer Gesellschaft, die schutzsuchende Menschen nicht pauschal wie Kriminelle behandelt. Ich träume davon, dass selbstverständlich hierzulande in der deutschen Bevölkerung jeder Lehrer, Arzt oder Metzger, egal welcher Hautfarbe oder Religion, jede Frau und jeder Mann auf die Frage: „Was bist Du?“ stolz sagen kann: „Ich bin Europäer!“

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