Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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08MAI2019
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Beim Spazierengehen in Tübingen habe ich einen großen Steinquader in einem kleinen, parkähnlichen Gelände entdeckt. Offensichtlich ein Denkmal unter alten Bäumen versteckt. Neugierig habe ich den großen Würfel aus der Nähe betrachtet: lauter Namen sind da in den Stein gemeißelt. Männernamen und zwei Inschriften: „Aus unserem Tod erblühe euch das Leben / uns gleich lernt opfernd euch für andere geben / und unser Sterben wird gesegnet sein“ und die Jahreszahlen 1914 – 1919. Es sind also die Namen von Getöteten aus dem Ersten Weltkrieg. Ihr Opfer für das Vaterland soll nicht vergeblich gewesen sein. Für mich versucht der Spruch das sinnlose Töten und Sterben im Krieg zu rechtfertigen. Die zweite Inschrift lautet nüchtern und weniger glorifizierend: „Zum Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewalt“. Darunter die Jahreszahlen 1933 – 1945. Auf der Frontseite steht: „Zum Gedenken an die Gefallenen der Universität“. Das Ende des Zweiten Weltkriegs war genau heute vor 74 Jahren.

Die meisten meiner Generation können sich das gar nicht mehr vorstellen, dass unseren Großvätern und Großmüttern eingetrichtert wurde: Deutsche und Franzosen sind Erzfeinde. Stumme Zeugen dieser Zeit sind die Soldatenfriedhöfe auf den ehemaligen Schlachtfeldern. Oft waren es nur wirtschaftliche und machtpolitische Interessen. Ich finde, es ist zu kurz gedacht, wenn heute die Europäische Union nur als eine wirtschaftliche Vereinigung angesehen wird. Es ist doch fast so etwas wie eine Voraussetzung für Frieden, dass Länder wirtschaftlich und sozial stabil sind. Die Herausforderungen unserer Zeit lassen sich nicht mehr national lösen. Ob Klima- und Umweltschutz, Arbeitslosigkeit, die Aufnahme von Flüchtlingen, oder, oder, oder. Wir müssen auf europäischer Ebene noch besser zusammenarbeiten. Aber das ist nicht alles: Ich finde es gut, dass die nationalen Einzelstaaten in Europa inzwischen dieselben Werte teilen: Zum Beispiel, dass politische Macht durch geheime und freie Wahlen legitimiert wird. Dass Korruption bekämpft wird. Dass es Meinungs- und Pressefreiheit gibt. Dass keiner daran gehindert werden darf, seine Religion auszuüben und niemand wegen seines Glaubens benachteiligt werden darf.

Drei Seiten auf dem quadratischen Mahnmal mit den Namen der Getöteten in den beiden Weltkriegen sind vollgeschrieben. Das ist genug. Eine Seite ist leer. Ich hoffe, das bleibt so.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28589
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