Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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06MAI2019
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Ich habe einen deutschen Reisepass. Ein weinroter Kartondeckel, meine persönlichen Daten, mein Passfoto und ein paar bestempelte Seiten. Dieses Dokument ist kostbar. Mit meinem Pass kann ich in 127 Länder reisen, einfach so. Und auch die restliche Welt steht mir offen. Ich muss nur ein Visum beantragen. Hätte ich zum Beispiel einen iranischen Pass, könnte ich spontan nur in 12 Länder gehen. In vielen afrikanischen Ländern verhält es sich ähnlich. Den Rest der Welt können Menschen aus diesen Ländern nicht so einfach besuchen.

Stellen Sie sich vor, Sie könnten problemlos nur in zwei, drei Nachbarländer reisen. Wenn Sie woanders hin wollten, müssten Sie Monate vorher Termine auf dem jeweiligen Konsulat machen, Dokumente beibringen, Fragen beantworten, viel Geld bezahlen und trotzdem jederzeit damit rechnen, dass Ihnen die Reise verweigert wird. Kaum vorstellbar.

Wir haben Reisefreiheit und Frieden in Europa. In den letzten 70 Jahren haben sich viele Menschen, Berufspolitiker und Privatpersonen dafür engagiert. Viel wurde unternommen: Verträge, Austauschprogramme, Partnerschaften. Das alles ist nicht selbstverständlich. Wer heute durch Europa reist und die schönen Landschaften und vielfältigen Kulturen genießt, überquert die unsichtbaren Furchen der Schützengräben und Frontlinien vergangener Kriege. Europa war immer wieder ein Kontinent der Grenzen, Schlagbäume und Rivalitäten.

Ich erinnere mich gut an den Fall der Mauer vor 30 Jahren. Ich war berührt. Viele Menschen im Osten waren glücklich. Sie hatten sich ihre Freiheit unblutig erkämpft. Diese Freiheit setzen wir aufs Spiel, wenn wir wieder Grenzen schließen und neue Mauern bauen. Freiheit und Frieden sind gefährdet, wenn jeder nur an sich denkt. „Jeder knüpft am eignen Netz, versucht rauszuholen, was zu holen ist. Wer denkt da an Frieden?“ heißt es in einem Kirchenlied aus meiner Jugendzeit. Ich finde dieses Bild trifft sehr genau, was ich derzeit unter den Ländern Europas beobachte: Jeder, versucht für sich rauszuholen, was zu holen ist. - Wer denkt da an Frieden? Der Refrain des Lieds beschreibt Silbe für Silbe, was wir eigentlich brauchen: „Wir knü-pfen auf-ein-ander zu, wir knüpfen aneinander an. Wir knüpfen miteinander ein Friedensnetz!“ Das Lied macht Hoffnung auf ein starkes Netzwerk, nicht nur in Europa. In der letzten Strophe heißt es optimistisch „Wir knüpfen ein neues Netz, verbinden, was für Frieden ist. Wir bringen den Frieden.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28587
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