Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Manchmal denke ich, ich weiß genau, was der Anderer braucht. Besser als er oder sie selber. Aber stimmt das? Eine Bekannte hat mir folgendes erzählt:

Der Tag hatte so gut begonnen. An diesem Morgen war sie gut gelaunt aufgestanden. Jetzt wollte sie noch schnell vor der Arbeit etwas einkaufen. Als sie vor dem Supermarkt den älteren Mann im Rollstuhl sah, war es wie eine Eingebung: Sie wollte ihn fragen, ob sie ihm nicht etwas Gutes tun könnte? Aber dann traute sie sich nicht.

Als sie wieder aus dem Laden rauskam, sah sie ihn immer noch dort sitzen. Jetzt oder nie, dachte sie: „Hallo, kann ich etwas für sie tun?“, hat sie ganz freundlich gefragt. Der Mann hat einen Augenblick gezögert: „Ja, sie können mir ein Bier holen“, und drückt ihr die zwei Pfandbons in die Hand.

Ich musste lachen, als meine Bekannte mir das erzählt hat. „Du hast ihm also ein Bier geholt – war das denn so schlimm?“ „Na, ja, ich wollte ihm doch etwas Gutes tun, aber ein Bier holen? Also ich weiß nicht…“ „Ihm ein Bier zu holen, war also nichts Gutes?“, frage ich sie, „was wäre denn gut für ihn gewesen?“

Ich habe ihr dann eine Begebenheit aus dem Leben von Jesus erzählt: Eines Tages brachte man einen Kranken zu Jesus, damit er ihn heilen sollte. Aber was macht Jesus? Er fragt den Kranken erst einmal, was er will. Was für eine Frage? Ein Kranker will doch gesund werden, was sonst? Aber Jesus fragt den Kranken. Ich hätte das nicht gemacht. Ich hätte einfach gehandelt. Aber Jesus fand es wichtig, ihn anzusehen und ihn zu fragen, was er denn will. Für Jesus war das nicht einfach irgendein „Kranker“, sondern ein Mensch, mit dem man reden kann und muss.

Ich glaube, die freundliche Ansprache meiner Bekannten, ihr Zugehen auf diesen fremden Mann im Rollstuhl war mindestens so wichtig war wie das Bier. Eigentlich viel wichtiger. Sie hat ihm gezeigt, dass sie ihn sieht und nicht nur vorbeischaut und sich ihren Teil denkst. Wir sind so schnell fertig mit einem Menschen und stecken ihn dann in eine Schublade. Jesus hat das nicht getan.

Über die Bierflasche mussten wir dann noch beide lachen: „Vielleicht“, meinte sie „sollte er die Flasche nur fürs Abendessen mit seiner Frau holen?“ „Vielleicht“, sagte ich, „aber das ist seine Sache.“

 

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