Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Sophie steht einfach nur da und lächelt. Sophie ist 8 Jahre alt und Schülerin in der Klasse, in der ich Lehrerin bin. Wir haben gelernt, was Tunwörter - also Verben - sind. Eine Aufgabe für alle Kinder besteht darin, sich ein Tunwort auszudenken und es pantomimisch darzustellen. Manche Tunwörter erraten wir leicht, wie zum Beispiel schwimmen, trinken oder hüpfen. Das Tunwort, das sich Sophie ausgedacht hat, erraten wir nicht. Wie gesagt, sie steht einfach nur da und lächelt. Lächeln, stehen, nachdenken, schauen, riechen und manches andere fällt den Kindern ein. Stimmt alles nicht. Schließlich bitten wir Sophie, uns zu verraten, welches Tunwort sie darstellt. Sie strahlt und sagt: „Sein“. „Sein“ ist sogar mein LieblingsTunwort.

Sophie hat Recht. „Sein“ ist auch ein Tunwort. Es lässt sich konjugieren: Ich bin, du bist, er ist, wir sind, ihr seid, sie sind.

Ich hab mich nicht gewundert. Sophie fallen beim Lernen immer wieder ungewöhnliche Sachen ein. Aber dieses Bild, wie sie einfach dasteht und lächelt, werde ich nicht vergessen. Denn „Sein“ hat für mich bis zu diesem Moment vor allem bedeutet eben nichts zu tun. Einfach nur sein, nichts schaffen müssen. Nichts denken, keine Hausarbeit, keine Verpflichtungen. Sein habe ich damit verbunden, einfach nur da zu sitzen und in die Landschaft zu schauen. Oder am Abend im Sessel zu sitzen und darüber nachzudenken, was ich den Tag über erlebt habe.

Wie Sophie so dasteht, tut sie ja auch nichts. Nicht wirklich. Sie ist ein Mädchen. Neugierig, fantasievoll, witzig, zuverlässig. Und ein lebendiges Beispiel für das, was Erich Fromm so beschreibt:

„Sein ist eine menschliche Tätigkeit. Das bedeutet nicht, Steine von hier nach dorthin zu schleppen. Das ist keine Arbeit im menschlichen Sinne. Sein heißt lebendig sein, interessiert zu sein, Menschen zu sehen, Menschen zuzuhören, sich in sie hineinzuversetzen, sich in sich selbst hineinversetzen.“[1] Mensch-Sein ist eine Tätigkeit. Es ist nicht egal, wie ich als Mensch bin. Menschen, die mit sich und anderen liebevoll umgehen, wirken - ebenso wie Menschen, die mit sich und der Welt unzufrieden sind. Als Christin glaube ich, dass jeder Mensch Gottes Ebenbild ist. In seinem Sein. So wie er ist. Das sind große Worte. Ich weiß. Aber sie sind der Wegweiser, mein Mensch Sein zu gestalten.



[1] Erich Fromm: Worte wie Wege. Herder Verlag 1992/95

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28182
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