SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Von einem ungewöhnlichen Experiment habe ich gelesen. Drei Paare saßen sich gegenüber. Mutter und Tochter, Bruder und Schwester und ein Paar, das seit 50 Jahren verheiratet ist. Sie sahen sich in die Augen, schweigend, vier Minuten lang.

Am Anfang war es komisch, haben sie hinterher erzählt. Ungewohnt. Vier Minuten können ganz schön lang sein. Aber dann geschah etwas: Die einen lächelten sich zu. Einem anderen kamen die Tränen. Wieder andere fassten sich bei den Händen. „Ich habe dich lieb!“, hat die Tochter zur Mutter gesagt. „Ich dich auch“, hat die Mutter geantwortet. Dann haben sie sich umarmt.

„Was haben Sie in diesen vier Minuten gedacht?“, sind die Teilnehmer gefragt worden. Die Tochter hat geantwortet: „Dass ich meiner Mutter viel verdanke. Die Kindheit. Die Unterstützung.“

Der Bruder, der seiner Schwester gegenübergesessen ist, hat geantwortet: „Dass ich vieles von meiner Schwester gar nicht weiß. Dass ich auch gar nicht nachfrage. Da muss ich in Zukunft mehr darauf achten.“

Der Mann, der seiner Frau gegenübergesessen hat, hat gesagt: „Ich habe gemerkt, wie viel sie mir bedeutet, und dass ich nicht ohne sie sein kann."

Mich berühren diese Antworten. Normalerweise schauen wir uns maximal 3,3 Sekunden in die Augen, sagen Wissenschaftler - dann wenden wir uns ab. Und vergeben uns ganz viel: Nähe. Tiefe Gefühle von Glück. Dass wir spüren: Ich bedeute einem anderen ganz viel.

Morgen ist Valentinstag, ein Tag für alle, die sich lieben. Vielleicht schauen Sie dem Menschen, den Sie lieben, morgen etwas länger in die Augen. Und warten ab, was passiert. Ich weiß: Sich so lange in die Augen zu schauen ist komisch. Aber vielleicht erleben Sie dann, wie einer zum anderen sagt: „Du bedeutest mir viel.“ Wer das gesagt bekommt, blüht auf. „Wenn du mich anblickst, werd’ ich schön“, heißt es in einem Gedicht. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen Menschen, der sie sieht.

(Gedicht „Scham“ von Gabriela Mistral)

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28108
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