Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Sucht ist immer verdrängte Sehnsucht. Dieser Satz hat mich getroffen, weil ich spüre, dass da was dran ist. Weit mehr als nur ein Wortspiel. Sucht ist immer verdrängte Sehnsucht. Der Satz ist von Anselm Grün, dem Benediktinerpater, Bestsellerautor und Psychotherapeut. Und er wird schon wissen, was er sagt. Und deshalb macht er mich nachdenklich dieser Satz. Vor allem wegen seiner Striktheit, dass Sucht immer verdrängte Sehnsucht sei. Mal überlegen. Welchen Menschen mit Suchtproblematik hab ich kennen gelernt und passt da dieser Satz?
Ich glaube nicht. Jedenfalls nicht immer. Schon, wenn der Urgrund der Sucht die Sehnsucht nach Geborgenheit und Wärme ist. Auch die Sehnsucht nach Anerkennung. Aber wenn ein Mensch nicht anders kann oder will als zum Beispiel seine Kriegserlebnisse mit Alkohol zu betäuben. Ist das dann Sehnsucht? Hingebogen vielleicht als eine Sehnsucht nach dem Zustand vor seinen Kriegserfahrungen, als eine Sehnsucht nach Frieden und Erlösung von seinen Traumata. Aber dann ist alles Sehnsucht. Wie auch immer. Sehnsucht ist eine der universalen Erfahrungen des Menschen. Sie kennt keine Grenzen. Keine Ländergrenzen, keine kulturellen Grenzen und auch keine Altersgrenzen. Sie beginnt mit der Geburt und endet erst mit dem Tod. „Alles beginnt mit der Sehnsucht“, sagt die Schriftstellerin Nelly Sachs und „unruhig ist mein Herz bis es ruht in dir, mein Gott“, der heilige Augustinus. Sehnsucht kann man rein innerweltlich sehen. Als die grundsätzliche Erfahrung, dass im Leben immer etwas fehlt. Sehnsucht kann man aber auch sehen als Heimweh nach dem verlorenen Paradies, nach dem ganz Anderen. Eine Sehnsucht, die hier nie ganz zu stillen ist.
Der Advent ist Sehnsuchtszeit pur. Sehnsucht nach Geborgenheit, Wärme und Licht in dieser dunklen Jahreszeit. Aber auch Sehnsucht nach mehr als nur dem, was hier möglich oder unmöglich ist.
Der Advent ist eine gute Gelegenheit sich ganz behutsam mit den tief liegenden Sehnsüchten in mir zu befassen. Sie zuzulassen, sie anzuschauen. Vielleicht zu entdecken, dass die Quelle vieler meiner Wünsche und auch Sehnsüchte diese Sehnsucht nach Geborgenheit ist. Ganz banal und ganz normal nach menschlicher Geborgenheit. Aber wenn diese gestillt ist, dann gibt es da immer noch diesen unstillbaren Rest an Sehnsucht, diese schmerzlich schöne, alte und ewig junge Sehnsucht, die die Quelle des Glaubens ist.
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