Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Technisch ist es heute schon möglich: Sie halten nach dem Aufwachen Ihr Gesicht kurz in die Kamera Ihres Smartphones, und es wird Sie freundlich schnurrend begrüßen. Unbemerkt hat die Software Ihr Konterfei mit einem Netz feiner Messlinien überzogen, die Daten gescannt und Sie im Nu identifiziert. 

Beten sei nichts anderes, meint ein afrikanischer Christ, als morgens nach dem Erwachen Gott sein Gesicht hinzuhalten. Was er da bei mir zu sehen bekommt – na ja! Egal, auf jeden Fall ist nun – face to face und ohne große Worte – der „Chat-room“ freigeschaltet, um den lieben langen Tag mit Gott online zu bleiben. Wie ich mich kenne, wird heute noch manches Stoßgebet getwittert, so zum Beispiel, dass eine  schwierige Beratung gelingt oder ich einem Schwerkranken nahe kommen und einen Trauernden ein wenig trösten kann. Ein „Danke“ flirrt vielleicht auch mal durch den Äther, wenn ich mich an einen gedeckten Tisch setze oder mir ein Mensch liebevoll begegnet. 

Gottes „Gesichtserkennung“ läuft nicht über Android. Sie toppt jeden banalen Algorithmus. „Herr, du hast mich erforscht und kennst mich. Ob ich sitze oder stehe, du weißt es“ - mit diesen Worten gibt sich ein frommer Beter im Alten Testament der Bibel ganz in Gottes Hand (Psalm 139,2). Er fürchtet offensichtlich nicht, von der kalten Linse einer jener Überwachungs-Kameras erfasst zu werden, die uns heute auf Schritt und Tritt belauern. Der Psalmist glaubt vielmehr an den liebenden Blick eines Vaters, dem er sein Leben anvertraut. 

Einem solchen halte auch ich gerne mein Gesicht hin – mit allen Runzeln und Falten. Denn Gott muss ich nichts vormachen, dem brauche ich auch nicht zu imponieren. Er weiß um meine Verletzungen, er kennt meine Grenzen, er fühlt mit mir meinen Schmerz. Vielleicht kommt bei ihm aber auch rüber, was in mir an Liebe zu Gott und den Menschen lebendig ist. 

Das wäre tröstlich, denn „die Augen des Herrn ruhen auf denen, die ihn lieben“, meint ein jüdischer Lehrer im Alten Testament: Ihnen sei er „ein starker Schild und eine mächtige Stütze“ (Jesus Sirach 34,19). Darauf verlasse ich mich.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26923
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