Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Ich unterrichte Religion in einer Klasse mit jungen Erwachsenen. Die Frauen und Männer sind in Deutschland, weil sie ihre Heimat aus unterschiedlichen Gründen verlassen mussten. Die Liste der Herkunftsländer ist lang: Sibirien, Kasachstan, Äthiopien, Kamerun, Senegal, Nigeria, Gambia, Afghanistan, Syrien, Vietnam. Alles Flüchtlinge oder wie man heute oft sagt, Menschen mit Migrationshintergrund. Sie müssen zunächst einmal Deutsch lernen. Sie wollen in zwei Jahren die Ausbildung zum Altenpflegehelfer machen. Ganz verschiedene Kulturen, Ethnien und Religionen treffen hier aufeinander. Es sind Christen, katholische, orthodoxe und reformierte, mehr oder weniger streng gläubige Muslime, Sunniten und Schiiten, Buddhisten und Gläubige aus Natur- und Stammesreligionen.
Mit allen behandle ich im Religionsunterricht in der Altenpflege ein sensibles Thema: Menschen am Sterbebett begleiten. Schnell wird klar: In jeder Religion gibt es für sterbende Menschen ähnliche Rituale. Sie sollen den Sterbenden mit seinem Leben versöhnen. Meistens sind offizielle Vertreter der Religion dafür zuständig. Manchmal auch Familienangehörige. Im Katholischen ist es das Sakrament der Krankensalbung, früher auch Sterbesakrament oder letzte Ölung genannt. Ein Priester wird gerufen. Dieser begleitet den Sterbenden auf seinem letzten Weg. Stellvertretend als Mann Gottes und stellvertretend als Mitmensch.
Die Schüler erzählen mir, dass sterbende Menschen ehrlich werden. Sie können andere und sich selbst nicht mehr belügen. Das deckt sich mit meiner Erfahrung: Im Sterben ziehen Menschen Bilanz über ihr Leben und sind mehr oder weniger zufrieden. Versöhnt mit ihrem Leben sind sie meistens ruhig und wirken gelassen. Haben keine Angst vor dem Sterben. Anders geht es Menschen, die erst im Sterben erkennen, was sie falsch gemacht haben, was sie versäumt haben und vor allem wie unzufrieden sie damit sind. Die Rituale sind Seelenhygiene. Sie können helfen, sich mit dem Leben, den Mitmenschen und mit Gott zu versöhnen. Dazu muss man nicht im Sterben liegen. Jeden Tag kann ich innehalten, nachspüren, was mich unzufrieden macht. Ich kann überlegen, mit wem oder was ich nicht versöhnt bin. Ich kann mir ein Herz fassen, und den ersten Schritt auf jemand zugehen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26851
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