Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Man steckt andere Menschen leicht in eine Schublade. Dann hat man sie einsortiert. Aber den anderen tut das weh.
Eine Frau aus der Pfalz hat in der Zeitung erzählt, wie sie das erlebt hat. Sie war nach einem fröhlichen Familienausflug mit ihrem Mann und den vier Kindern auf dem Heimweg. Sie sind Zug gefahren. Zur Feier des Tages Erster Klasse. Die Kinder sitzen ganz fasziniert da und freuen sich. Irgendwann kommt der Schaffner vorbei. Der Familienvater kramt die Fahrkarten raus. Der Schaffner aber wirft nur einen kurzen Blick auf die Familie und sagt in super-deutlicher Aussprache: „Das ist Erste Klasse. Ihr müsst raus.“ Er hatte wohl gedacht, dass sie ihn anders nicht verstehen. Im ersten Moment sind Eltern und Kinder sprachlos. Sie haben doch Karten für die Erste Klasse. Dann begreifen die Eltern, was los ist. Es geht um ihre Hautfarbe. Die ist dunkel.

Für den Schaffner war auf den ersten Blick klar: die sind nicht von hier. Die kennen sich wahrscheinlich nicht aus beim Zugfahren. Und Erste Klasse können die sich bestimmt nicht leisten. Also raus mit ihnen. Nach dem ersten Schock hat die Frau in lupenreinem Pfälzisch geantwortet und ihren Dienstausweis gezeigt. Sie ist Landtagsabgeordnete.

Jetzt war der Schaffner irritiert. Nun hat er sich endlich auch die Fahrkarten angeschaut und festgestellt: alles in Ordnung. Für die Familie war allerdings gar nichts mehr in Ordnung. Die Entschuldigung des Schaffners hat erstmal nicht viel geholfen. Die Kinder haben ihre Eltern immer wieder gefragt: „Warum wollte der uns rauswerfen?“ Was sollten die Eltern da sagen?

Als ich die Geschichte gehört habe, dachte ich zuerst: „Wie kann der bloß?“ Dann aber bin ich nachdenklicher geworden. Ich merke: ich bin manchmal auch schnell mit meinem Urteil. Ein Blick – und ab in die Schublade. Wie die aussieht. Wie laut der ist. Der Typ da drüben: Zutätowiert von oben bis unten. Und sie hier: nur Markenklamotten, bestimmt total oberflächlich.

Jesus hat gesagt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Nicht weil alle Nächsten meinem persönlichen Geschmack entsprechen würden. Sondern weil Gott sie liebt. Und mich auch. Ein erster Schritt könnte sein, anderen eine Chance zu geben. Oder zwei. Die Menschen erstmal kennenlernen. Die Schubladen können dann getrost offen bleiben. Ich selbst will auch in keine rein.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26700
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