Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

In unseren Breiten fällt der Advent in den Winter, und ich könnte mir’s, ehrlich gesagt, auch gar nicht anders vorstellen. Ich mag ihn sowieso, den Winter, auch dann, wenn er die Landschaft nicht mit strahlendem Weiß überzieht, sondern mit unspektakulärem Grau. Ich mag diese langen Nächte, und ich stehe morgens lieber in der beginnenden Dämmerung auf als bei grellem Sonnenlicht. Tagsüber, da weiß ich immer ziemlich genau, was nacheinander kommt und erledigt werden muss. Anders die Nacht, sie ist die Zeit, die mir gehört, manchmal jedenfalls.
Natürlich gibt es Nächte, in denen man vor Erschöpfung bei der Tagesschau einschläft oder vor Sorgen kein Auge zumacht, aber es gibt auch andere. Die Nacht ist die Zeit der Philosophen und der Diebe, der Liebespaare und der Mystiker, der Süchtigen und der Suchenden. Zum Tag gehört das Kontrollierte und Kontrollierbare, in der Nacht sind die Gedanken frei, und nicht nur die Gedanken.
In allen Kulturen wird die Dunkelheit nicht nur als physikalische Erscheinung verstanden, sondern auch als Symbol. Was bei Tageslicht so selbstverständlich und klar aussieht, wird im Dunkeln gestaltlos, zweifelhaft, unheimlich. Bei Tag schaffen die Dinge um mich her Ordnung und machen mir meine Welt vertraut und verlässlich. Wenn ich nichts mehr sehe, muss ich anders suchen und anderes suchen, was mir Halt geben kann.
Es gibt Menschen, die in der Nacht, manchmal in einer einzigen, die Spur ihres Lebens gefunden haben – in der Begegnung mit dem lebendigen Gott: Elisabeth von Thüringen, die Landgräfin, Blaise Pascal, der Mathematiker, Edith Stein, die Philosophin... So etwas kann man nicht herbei meditieren, man kann sich allenfalls dafür öffnen, ohne zu wissen, ob es sich jemals ereignet.
In der Bibel lese ich: „Tiefstes Schweigen hielt alles umfangen, die Nacht hatte in ihrem Lauf die Mitte erreicht, da kam aus der Höhe, vom Königsthron herab, Herr, dein erlösendes Wort.“ (Weisheit 18,14) Was hier verheißen wird? Ein göttliches Wort, ja, aber zuerst doch: dass wir schweigen lernen und uns der Nacht auszusetzen, damit das Wort auch eine Chance bekommt. https://www.kirche-im-swr.de/?m=2642
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