Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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In manchen Städten gibt es richtige Lebkuchengeschäfte, die das ganze Jahr über fast nichts anderes verkaufen. Mir ist das ein Rätsel, wie die sich über den stattlichen Rest des Jahres retten, der nicht Weihnachtszeit ist. Im Freibad ein Päckchen Elisen-lebkuchen verputzen, während um mich herum Eis gegessen wird, das hätte viel-leicht auch was, aber ich käme nie auf die Idee, obwohl ich den Geschmack von Lebkuchengewürz fürs Leben gern mag. Und den meisten Leuten, die ich kenne, geht es da ähnlich. Aber die Saison ist nun mal kurz, und deshalb gibt es Lebkuchen und Spekulatius schon ab September in allen Supermärkten. Und man kauft und isst, weil’s vor Weihnachten doch am besten schmeckt. Und wenn es dann Weihnachten ist, habe ich von allem schon genug, und das Gebäck trocknet im warmen Wohn-zimmer vor sich hin oder wird in den Läden zum halben Preis verramscht.
In meiner Kindheit galt das eherne Gesetz, dass es vor Weihnachten kein Weih-nachtgebäck gibt. Na ja, ganz so ehern war es auch wieder nicht, denn man durfte von allem, was gebacken wurde, probieren, und wenn etwas zu dunkel oder sonst wie missraten aus dem Ofen kam, wurde das auch freigegeben.
Früher hatten alle großen Feste eine Fastenzeit, die ihnen vorausging. Das hatte na-türlich erst mal religiöse Gründe: Man wollte sich durch nichts ablenken lassen, damit man sich aufs Wesentliche konzentrieren konnte und auch innerlich bereit wurde für das kommende Fest. Das klingt, wie wenn das Genießen mies gemacht werden soll-te, aber am Ende ist es gerade umgekehrt: So richtig genießen kann ich nur, was ich nicht immer habe und auch manchmal vermisse. Wenn ich alles, wonach mir gerade ist, sofort bekommen kann, dann ist es schon gar nicht mehr so reizvoll.
Das alte Spiel mit Sehnsucht und Erfüllung, es ist eine richtige Kunst, eine Lebens-kunst, die man heute wieder mehr entdecken müsste. Das ist mit allem so, mit den Beziehungen, in denen ich lebe, mit der Freizeit, die ich mir gönne – und natürlich mit den Lebkuchen. Sie schmecken für mich bis heute nach Weihnachten. Und der Ad-vent ist die Zeit, in der ich mich drauf freuen kann, das ist genauso schön, mindes-tens. https://www.kirche-im-swr.de/?m=2641
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