Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Geht es nach Karl Marx, dann sind „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx-Engels-Werke 1:385). 

Klingt nicht gerade nach Poesie, kommt mir aber unheimlich bekannt vor. Im Lukas-Evangelium wird nämlich Maria, der Mutter Jesu, ein Revolutionslied auf die Lippen gelegt, das es mit Karl Marx aufnehmen kann. Maria preist ihren Gott, der „die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht, der die Hungernden mit seinen Gaben beschenkt, die Reichen aber leer davonjagt“ (Lukas-Evangelium 1,52-53).

Ein Protestlied, vorgetragen auch noch von einer jungen Frau, die im Patriarchat nichts zu melden hat. Ein russischer Zar, so wird erzählt, sei bei diesen Versen erbleicht.    

Karl Marx – man feiert dieser Tage seinen 200. Geburtstag – kannte als Kind jüdischer Eltern die zentrale Botschaft der hebräischen Bibel, nämlich die Befreiung Israels aus der Sklaverei Ägyptens (2. Buch Mose 13-15). Doch dem späteren Protestanten war mit Sicherheit auch das „Neue Testament“ vertraut. Über einhundert Mal nimmt Marx in seinen Schriften auf biblische Aussagen Bezug.  

Nun geht es nicht darum, Marx im Nachhinein christlich zu vereinnahmen. Es gibt aber  mehr Berührungspunkte zwischen seiner Lehre und der Bibel, als es marxistischen und kirchlichen Ideologen passt. Immerhin hat die katholische Kirche in Deutschland in der „Würzburger Synode“ 1975 eingestanden, sie habe sich mit Karl Marx und seiner Lehre „nur unzureichend“ auseinandergesetzt („Kirche und Arbeiterschaft“ 1.5).  

Schade um die verlorenen Jahrzehnte. Man hätte die Kräfte bündeln und gemeinsam gegen jenen Abgott anrennen können, der sich um des Profits willen alles unterwirft. In der christlichen Lesart ist dies der „ungerechte Mammon“, vor dem Jesus immer wieder warnt (z.B. Lukasevangelium 16,13). In der marxistischen Auslegung meint der „Fetischismus des Kapitals“ nichts anderes, als eben diesen „Moloch“, der heute die Näherinnen in Bangladesch ausbeutet, zahllose Menschen mit Hungerlöhnen erniedrigt und mit seinen Finanz-Spekulationen die Welt immer wieder an den Rand des Abgrunds führt.  

Die Bibel ist das Buch der Befreiung. Die darf man nicht einfach ins Jenseits vertagen. Befreiung beginnt hier und heute und vollendet sich in der Auferstehung.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26403
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