Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
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Von Erich Fried stammt das folgende Gedicht: Aufhebung. Ich lade Sie heute Morgen ein, mir in eine Ostergeschichte zu folgen – an die mich das Gedicht erinnert hat.
Sein Unglück
ausatmen können
tief ausatmen
so dass man wieder
einatmen kann
Und vielleicht auch sein Unglück
sagen können
in Worten
die zusammenhängen
und Sinn haben
Und die man selbst noch
verstehen kann
Und die vielleicht sogar
irgendwer sonst versteht
oder verstehen könnte
Und weinen können
das wäre schon
fast wieder Glück
Für mich macht Maria von Magdala am Ostermorgen diese Erfahrung. Sie ist eine von den ganz Treuen. Sie hat Jesus begleitet bis unters Kreuz. Sie geht zum Grab und lässt ihren Tränen freien Lauf–. Der, den sie geliebt hat, der ihrem Leben eine neue Richtung gegeben hat, ist tot. Brutal ermordet. Sein Grab leer.
Da wird sie von einem Mann gefragt: „Frau warum weinst Du? Wen suchst Du?“
Was für eine Frage, denke ich mir. Ist doch klar, warum sie weint und wen sie sucht. Es muss also einen guten Grund geben, warum er sie das so Offensichtliche fragt. Vielleicht weil er sie ermutigen will, das was sie so quält auszusprechen – es in Worte zu fassen. Weil das, was ausgesprochen wird, wirklicher ist, realer. In dieser Ostergeschichte wie auch im ganz normalen Alltag. Immer dann, wenn etwas geschehen ist, was mich erschüttert oder verletzt hat.
Dann hilft mir: erstmal durchschnaufen – ausatmen, seufzen, „ach“ sagen, tief einatmen. Und dann - so wie Erich Fried es in seinem Gedicht beschreibt: „vielleicht sein Unglück sagen können in Worten, die zusammenhängen und Sinn haben und die man selbst noch verstehen kann.“
Da ist schon viel gewonnen. Wenn ich in Worte fassen kann, wo mich der Schuh drückt oder mich etwas verletzt hat, dann sortiert sich etwas in mir. Dann werde ich ruhiger - selbst wenn diese Worte nur gestammelt sind.
Und weinen können – auch das erlebe ich als erlösend. Bei mir selbst und bei anderen. Da kommt buchstäblich was in Fluss. Was wie erstarrt oder eingefroren war löst sich und wird lebendig – und das wäre laut Erich Fried schon fast wieder Glück – oder biblisch betrachtet: eine kleine Auferstehung mitten im Alltag.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=26215