Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Manchmal bleibe ich an einem Stolperstein in meiner Stadt hängen. Stolpersteine - das sind Gedenksteine, die seit einigen Jahren vor manchem Haus in den Gehweg eingelassen werden. Auf jedem Gedenkstein steht ein Name. Der Name des Menschen, der in diesem Haus gewohnt hat, bis er von den Nazis vertrieben oder ermordet worden ist. Die Nazis wollten diese Menschen umbringen. Sie wollten jede Erinnerung an sie tilgen. Die Stolpersteine tragen dazu bei, dass sie nicht vergessen werden.

Margot zum Beispiel. Die Stolpersteine für sie und ihre Familie liegen in der Fußgängerzone meiner Stadt, vor einem schönen, stattlichen Haus. Hier ist Margot mit ihrem kleinen Bruder aufgewachsen. Der Vater hatte im 1. Weltkrieg für Deutschland gekämpft und war schwer verletzt worden. Damals hatte noch kaum jemanden gestört, dass er Jude war. Die Familie hatte ein Geschäft: ein Textilhaus. Bis zu jener Nacht im November 1938, in der auch in Weinheim die Synagoge gebrannt hat. Das Geschäft von Margots Eltern ist verwüstet worden, der Vater wurde verschleppt und ist als gebrochener Mann zurückgekommen. Die Eltern haben danach die vielleicht schwerste Entscheidung ihres Lebens getroffen: sie haben der 13-jährigen Margot eine Fahrkarte gekauft und haben sie nach Palästina geschickt. Ihrer Tochter haben sie so das Leben gerettet. Sie selbst und die Großmutter wurden von den Nazis ermordet, der kleine Bruder wurde aus einem Lager gerettet und ist in Frankreich aufgewachsen. Nach dem Krieg hat Margot ihn dort wiedergefunden. Später ist sie mit ihrem Mann nach Köln gezogen und hat dort mit ihren Kindern gelebt.

Über die Namen ihrer Familie stolpere ich in der Fußgängerzone oft. Ich bleibe an dem hängen, was sie Grausames erlebt haben. Ihre Heimatstadt ist für sie der Ort geworden, an dem die Grausamkeiten gegen sie begonnen haben. Einfach weil sie Juden und Jüdinnen waren. So wie Jesus Jude war.

Manche stören sich heutzutage an Stolpersteinen. Es muss doch mal Schluss sein mit dem Erinnern, sagen sie.
Ich finde die Steine gut. Sie lassen mich tatsächlich stolpern. Sie mahnen mich: wehret den Anfängen! Wann immer Menschen ausgegrenzt werden, in ihrer Menschenwürde nicht geachtet werden. Aus welchem Grund auch immer.

In Baden-Württemberg haben wir nun einen eigenen Antisemitismusbeauftragten. Dass wir ihn bekommen, finde ich gut. Dass wir ihn brauchen, bedenklich. Auch daran bleibe ich hängen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26192
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