Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Jemand hat mir eine Ansichtskarte geschickt. Ein Plattenweg im Park. Hellgraue Betonplatten. Makellos. Vielleicht erst vor kurzem verlegt. Noch keine Frostschäden. Nirgends hat sich etwas gesenkt. Die Fugen säuberlich mit Split ausgefüllt, damit man nicht stolpert. Perfekt.
So perfekt, wie ich mir meinen Lebensweg wünsche. Mühelos möchte ich vorankommen. Ohne Sorge, dass ich stolpern und hinfallen könnte. Ohne Angst, dass ich dem Weg nicht gewachsen sein könnte.

Aber bei genauerem Hinsehen stelle ich fest: in den Fugen wächst etwas. Moos. Ein paar Grashalme. Ein paar kleine Gänseblümchen und Hornveilchen. Unkraut. Man könnte versuchen, das wegzumachen. Aber dann werden die Platten locker. Besser ist, man lässt es so. Nichts ist perfekt.

Nichts ist perfekt. Auch in meinem Leben nicht. Nicht im Leben all der Menschen, die ich kenne. Und wenn ich manchmal von den Schönen und Reichen höre, die bewundert und beneidet werden: Auch bei denen ist nichts perfekt. Ehen zerbrechen. Beruflich macht einer einen Fehler und auf einmal muss er von vorne anfangen. Der Mensch stirbt, mit dem eine sich noch auf viele schöne Jahre gefreut hatte. Sie hat mit ihm gelitten und jetzt ist sie allein.

Nichts ist perfekt. Auch nicht in meinem Leben. Ich finde, die Ansichtskarte, die ich bekommen habe, zeigt das ganz schön: Der Plattenweg und das Unkraut dazwischen. Und auf einmal sehe ich: Wie traurig wäre dieser Weg ohne das Grün in den Fugen. Einförmig und gleichförmig, grau.

Aber aus den Fugen wächst das Leben! Da, wo es nicht perfekt ist, da wird es lebendig. Die Ehe ist zerbrochen, ja. Aber das war auch eine Erfahrung, die mir gezeigt hat, wie es anders und besser gehen könnte. Jetzt geht es besser. Beruflich hätte ich vielleicht mehr erreichen können. Manche sagen, ich hätte mehr aus mir machen müssen. Aber stattdessen blüht das Leben, ich freue mich über Kinder und Enkel.

Noch etwas habe ich auf einmal auf der Karte gesehen: Der Fotograf hat von dem Weg nur zwei Reihen Platten fotografiert. Dazwischen das Grün – wie ein Kreuz. Ein grünes Kreuz auf dem Weg. Das Leben ist nicht perfekt. Auch Halb Gelungenes kann schön sein. Auch Unvollkommenes kann blühen. Aus Lücken kann etwas Neues wachsen.

Manche sagen ja, es ist deprimierend, sich mit dem Kreuz zu beschäftigen. Dass der Glaube an den Gekreuzigten die Christen freudlos macht und irgendwie traurig. Ich finde das nicht. Das Kreuz gehört zum Leben dazu. Und wo man es nicht verdrängt, sondern geduldig annimmt, da kann das Leben aufblühen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26108
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