SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Gestern war Holocaustgedenktag. Ich möchte mit meinen Sonntagsgedanken noch einmal auf diesen wichtigen Tag des Gedenkens zurückkommen. Wir denken an die Opfer des Nationalsozialismus,  an Juden, Christen, Sinti und Roma, an Menschen mit Behinderung, denen jedes Lebensrecht verweigert wurde. Wir denken an Männer und Frauen des Widerstandes, an Homosexuelle, an Künstler und Wissenschaftler. Sie alle wurden Opfer des Regimes genauso wie viele Kriegsgefangene und Deserteure. Millionen Menschen, die unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft entrechtet, verfolgt, gefoltert und getötet worden sind.

Der Gedenktag ist 1996 durch den damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog eingeführt und auf den 27. Januar festgelegt worden. Weil am 27. Januar 1945 Soldaten der Roten Armee die Überlebenden des Konzentrationslagers Ausschwitz-Birkenau befreit haben, des größten Vernichtungslagers des Nazi-Regimes.

Roman Herzog  hat damals in seiner Rede Folgendes gesagt: „Die Erinnerung darf nicht enden. Sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken.“

Eine Erinnerung, die in die Zukunft, wirkt. Mir scheint, so eine Erinnerung ist heute wichtiger denn je. Es ist inzwischen kaum mehr zu übersehen, dass in unserem Land/Deutschland (und anderswo auch)  Formen der Judenfeindlichkeit zunehmen, dass die Gräuel der Nazis verharmlost werden und erneut rassistische Parolen in aller Öffentlichkeit, sogar im Bundestag, zu hören sind.

Manche meinen, man soll die alten Geschichten endlich ruhen lassen und stattdessen Denkmäler für unsere Erfolge und Siege errichten. Ich finde solche Gedanken unerträglich. Sie verhöhnen nicht nur die Opfer, sie weigern sich auch, aus der Geschichte zu lernen. „Das Vergessen verlängert das Exil, in der Erinnerung liegt das Geheimnis der Erlösung.” Das ist eine uralte Erfahrung des Volkes Israel und darum sagen Juden zu recht: Wer das Geschehene  vergessen will, tötet die Opfer ein zweites Mal

„Das Vergessen verlängert das Exil, in der Erinnerung liegt das Geheimnis der Erlösung”, Einer der sich leidenschaftlich dafür eingesetzt hat, dass wir das Geschehene nicht vergessen, war Elie Wiesel, der 2016 verstorbene Friedensnobelpreisträger. Er erzählt wie er nach Auschwitz kam. Jeder durfte nur einen Koffer von zu Hause mitnehmen. Und im Koffer des jungen Wiesel waren sein Gebetsschal und Gebetsriemen, einige religiöse Bücher, diverse rituelle Gegenstände, sonst nichts.

Mit nicht ganzsechzehn Jahren wurde er in die Konzentrations- und Todeslager deportiert Unmittelbar nachdem er  den Zug verlassen hatte, an der berüchtigten Rampe von Auschwitz-Birkenau, hat er seine Mutter und seine kleine Schwester zum letzten Mal gesehen. Natürlich wurde ihm auch der Koffer entrissen. Er klammerte sich an seinen Vater, der später im KZ Buchenwald starb. Elie Wiesel war einer der wenigen, der  das KZ überlebt hat.

Lange Zeit konnte er nicht über seine Erlebnisse sprechen. Die Hölle, der er entkommen war, hatte ihn stumm und sprachlos gemacht .Aber mit den Worten kam auch das Leben zurück .Und gegen alles Vergessen setzte er die Erinnerung. Schonungslos hat er gezeigt, was geschehen war und eindringlich stellte er die Frage, wie dieses unsägliche Unheil von Menschen angerichtet werden konnte.

Und noch abgründiger: Die Frage, wie Gott all diese Grausamkeiten zulassen konnte. Elie Wiesel schildert, wie drei fromme Rabbiner beschlossen hatten, über Gott deswegen zu Gericht zu sitzen. Sie haben Gott nicht nur angeklagt, sondern schuldig gesprochen. Sie haben nichts verdrängt, nichts fromm übertüncht, sie haben Gott nicht aus der Verantwortung entlassen, sondern mit ganzer Leidenschaft vor ihm ihr verwundetes Herz ausgeschüttet. Offen und ehrlich, unverblümt und direkt. Auch Gott soll nicht vergessen. Schon gar nicht seinen Bund, den er mit den Menschen geschlossen hat.

.Darf man so mit Gott umgehen? Elie Wiesel zeigt uns, wie fromme Juden den Konflikt mit Gott nicht scheuen. Immer wieder blitzt in seinen Erzählungen eine entscheidende Erfahrung auf: Man kann Jude sein mit Gott, in Gott, sogar gegen Gott, aber nicht ohne Gott. Auch Gott muss immer wieder erinnert werden, nicht zuletzt an seinen Namen. Denn mit dem hat er für alle Zeit/auf immer versprochen hat, dass er für uns Menschen da sein will.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25824
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