SWR2 Wort zum Tag

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Heute finde ich in meinem Adventskalender ein Gedicht von Jehuda Amichai, das mich sehr berührt:

„An dem Ort,/ an dem wir Recht haben,/ werden niemals Blumen wachsen / im Frühjahr. /
Der Ort, an dem wir / Recht haben, / ist zertrampelt und hart / wie ein Hof. / Zweifel und Liebe aber / Lockern die Welt auf / Wie ein Maulwurf, wie ein Pflug ...“

Der deutsch-israelische Lyriker Jehuda Amichai wurde im Jahr 1924 als Ludwig Pfeuffer in Würzburg geboren. Die Familie konnte noch rechtzeitig vor der Verfolgung im Dritten Reich fliehen und 1935 nach Israel auswandern. Jehuda Amichai ist einer der meist gelesenen Dichter und Schriftsteller in Israel.

 „Zweifel und Liebe aber lockern die Welt auf ...“ - Sein Gedicht ist ein nachdenkliches Lob des Fragens und Zweifelns an der eigenen Wahrnehmung, an der eigenen Position. Nicht aus Unsicherheit, sondern aus der Sicherheit der Liebe, die die Kraft hat, Zugeständnisse zu machen.

Ich verstehe das so: Selbst wenn ich im Recht bin mit dem, was ich denke und erfahren habe, dann könnte die Liebe mich doch zweifeln lassen, ob es mir und anderen guttut, wenn ich gerade jetzt mein Recht behaupte oder einfordere. Gewiss, ich will mich nicht verbiegen lassen oder auf eine falsche Spur steuern, indem ich Verkehrtes unwidersprochen laufen lasse. Aber es könnte doch sein, dass es Momente gibt, in denen es wichtig ist, aufs Rechthaben oder auch aufs Rechtbehalten-Wollen zu verzichten. Damit das Gespräch weitergehen und – wer weiß – Einsicht wachsen kann. Damit der Andere nicht so beschämt ist, dass der Weg verbaut wird.

Wer mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, wird gar nicht so selten in diese Situation kommen. Ist es richtig, mit meiner Lebenserfahrung ihnen gegenüber immer wieder darauf zu bestehen, dass ich Recht habe? Oft können sie ja noch nicht wissen, was ich schon weiß oder einschätzen kann. Wo mir diese Zurückhaltung gelingt, beharre ich nicht auf dem „Ich habe recht“. Sondern denke: Vielleicht habe ich mich ja auch in meinen Erfahrungen eingeschlossen und sehe nicht mehr, was auch sein könnte? „Zweifel und Liebe aber lockern die Welt auf ...“

In einem alten Adventslied heißt es: „O Erd, herfür dies Blümlein bring, / o Heiland aus der Erden spring“ (s.u.). Es beschreibt die Sehnsucht der Gläubigen, dass Gott zur Welt kommen und sie verändern soll. Es singt voller Hoffnung und großer Kraft gegen das Verhärtete an, gegen die Erfahrung, wie schwierig es ist, die Welt zu verändern. Es sät den Zweifel, man könne nichts tun. Ja: Im Advent lockern „Zweifel und Liebe aber“ die Welt auf.

EG 7 O Heiland reiß die Himmel auf

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