Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Der Dichter Kurt Tucholsky hat gesagt: „Toleranz ist der Verdacht, dass der andere Recht hat.“ Das gefällt mir. Weil diese Definition nicht mit dem berühmten moralischen Zeigefinger daher kommt. Und weil sie keine eindeutige Lösung präsentiert. Sondern mich stattdessen bewusst verunsichert. Tucholsky sagt, dass das der Anfang von jeder Form von Toleranz ist: Verunsicherung. Ich kann mir dann nicht mehr so sicher sein, ob ich wirklich im Recht bin, ob ich eine Sache richtig verstanden habe, ob mein Weg der einzig gangbare ist. Was dazu führt, dass ich weniger festgelegt bin in meiner Auffassung. Toleranz bedeutet in diesem Sinne: Ich gestehe dem anderen mindestens so viel Recht zu wie mir. Ich unterstelle, dass er der Wahrheit mindestens so nahe ist wie ich. Und deshalb schaue ich auf ihn und seine Meinung mit Respekt und Sympathie.

Das Wort Toleranz ist in den letzten Jahren bei uns zu einer Art Modewort verkommen. Überall wird Toleranz eingefordert. Wenn Kinder schlecht erzogen sind und mir auf der Nase herumtanzen, was ich hin und wieder in der Schule erlebe; dann soll ich doch ein bisschen tolerant sein. Wenn mir jemand auf eine Nachricht nicht antwortet, und ich warten muss, bis ich endlich alle Rückmeldungen zusammen habe, heißt es: „Stell’ dich nicht an, ist doch nicht so schlimm.“ Mit Toleranz hat das aber nichts zu tun, finde ich. Das ist einfach schlechtes Benehmen, schlechter Stil. Mein Vater konnte dazu sagen: „Ich muss nicht alles hinnehmen.“ Und er hat gemeint: Es gibt Spielregeln, die unser Miteinander regeln. Überall, wo Menschen zusammen leben, gibt es solche Regeln. Andernfalls müsste man immer wieder bei Null anfangen, wenn es darum geht, gemeinsam etwas zu tun. Wenn trotzdem einer aus der Spur läuft, dann nützt Toleranz nichts, dann braucht es einen, der den Mund aufmacht und das Gemeinsame einfordert.

Toleranz kommt dort ins Spiel, wo es nicht um die Selbstverständlichkeiten geht. Der Bereich der Religion, des Glaubens ist dafür ein gutes Beispiel. Ich muss als Christ tolerieren, dass ein anderer Mensch anderes glaubt als ich. Gerade für das Gespräch unter den Religionen ist das wichtig. Ich muss dazu meinen Standpunkt nicht aufgeben. Ich darf beharren, dass ich meine Überzeugung für wahr halte, soweit ich das mit vernünftigen Argumenten belegen kann. Aber ich muss dem anderen genau das Gleiche zugestehen, ohne irgendeinen Abstrich. Und das geht am besten, wenn ich bei mir den letzten Zweifel nicht leugne, sondern den Gedanken aushalte: Der andere könnte doch Recht haben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25320
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