Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Ich steige aus dem Zug. Unmittelbar vor mir geht ein Mann mit einem Blindenstock. Er tastet sich über den Bahnsteig, stößt an das Wartehäuschen des Bahnpersonals und findet schließlich das Geländer zum Treppenabgang. Für mich sieht das etwas unsicher aus. Ich überlege kurz, dann spreche ich den Mann an: „Entschuldigen Sie, kann ich Ihnen behilflich sein?“ Seine Antwort: „Nein, Herr Steiger, es geht schon.“

Es dauert eine ganze Weile, bis ich meine Überraschung in den Griff kriege. Dann frage ich ungläubig: „Sie kennen mich? Aber wir sind uns ja noch gar nie vorher begegnet!“ „Doch, Sie sprechen immer die Anstöße.“ Noch einmal bin ich ziemlich irritiert. Dann danke ich ihm, sag Ade und gehe weiter. Aber die Begebenheit lässt mich nicht los.

Klar, ich spreche im Radio, deshalb ist meine Stimme manchen Menschen bekannt. Es gibt Leute, die sagen, meine Stimme sei charakteristisch. Aber dass der blinde Mann innerhalb von Sekundenbruchteilen und ohne im Geringsten ahnen zu können, wer da neben ihm steht, die Stimme einer Person zuordnen kann, das beeindruckt mich ungemein. Wie stark ausgeprägt muss sein Gehör sein! Wie groß sein Gedächtnis, die Fähigkeit an Tönen zu unterscheiden und dem jeweiligen Klang Personen zuzuordnen.

Der Mensch ist ein Wunder. Er hat großartige Sinnesorgane, mit denen er wahrnimmt, was um ihn her geschieht. Er kann sich verständigen mit Worten und Gesten, durch den Ausdruck seines Gesichts und des ganzen Körpers. Und wenn ein Sinn ihm fehlt, weil er ihn verloren hat oder nie hatte seit seiner Geburt, dann kann er das wettmachen, weil die anderen Sinne es ausgleichen. Was für ein ungeheures Potential da in uns steckt. Möglichkeiten, die wir erreichen, wenn wir sie brauchen, um zu überleben.

Ich weiß nicht, wie sehr der Mann am Bahnsteig darunter leidet, dass er nicht sehen kann. In dem Augenblick, als wir uns begegnet sind, war nichts davon zu merken. Ich habe ihn als wach und hell und froh erlebt.

Ich bin froh, dass ich nicht blind bin. Und gleichzeitig bin ich glücklich über diese Begegnung. Weil sie mir einmal mehr zeigt, wie viel Überraschendes in einem anderen stecken kann, das ich nie erwarten würde.

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