Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Mein Zug hat Verspätung und ich bin richtig genervt. Die Verspätung wird zum gefühlt 100sten Mal durchgesagt. Jetzt aber mit einem ungewohnten Zusatz: „Ich bin gespannt, was Sie mit der geschenkten Zeit anfangen!“

Erst habe ich mich wahnsinnig aufgeregt. Der Zugbegleiter hat ja gut reden. Von wegen geschenkte Zeit. Eher geklaute Zeit, denn ich muss weiter. Jetzt komme ich zu spät.

Aber nachdem ich ein wenig telefoniert und alles geregelt habe, bin ich ruhiger geworden: Geschenkte Zeit. Eigentlich hat er ja Recht. Ändern kann ich jetzt sowieso nichts. Dann kann ich auch versuchen, die Wartezeit für mich zu nutzen.

Ich habe mir einen Kaffee geholt und es mir auf einer Bank bequem gemacht. Ich habe eine Zeitlang den Menschen um mich herum zugeschaut, die Wolken am Himmel beobachtet und angefangen Nachrichten an Menschen zu schreiben, bei denen ich mich schon lange mal melden wollte. Mein Ärger war weg und irgendwie hat diese unfreiwillige Pause richtig gut getan. Ganz automatisch hat sich manches in mir sortiert, was mich vorher unruhig gemacht hat.

Trotzdem brauche ich solche Zwangspausen nicht ständig. Aber dass es immer mal wieder klappt, von meinem Ärger wegzukommen, das wünsche ich mir. Vor allem weil ich Abstand von dem bekomme, was mich sonst so sehr beschäftigt und was in meinem Leben manchmal zu viel Bedeutung bekommt: sei es meine Arbeit, Menschen, die mich auf die Palme bringen oder Sorgen, die mich umtreiben. Eine Stelle in den Psalmen passt perfekt dazu: „Wende meine Augen davon ab, nach Nichtigem zu schauen.“ (Ps 119, 37). Für mich heißt das übersetzt: Ich will mich nicht auf das konzentrieren, was mich ärgert. Lieber um das kümmern, was mir gut tut. Ich weiß, dass das nicht immer auf Knopfdruck gelingt, aber versuchen werde ich es trotzdem.

Heute Nacht werden die Uhren von der Sommer- auf die Winterzeit umgestellt. „Ich bin gespannt, was Sie mit der geschenkten Zeit anfangen.“

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