Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Die meisten Menschen wollen gerne lange leben, aber kaum jemand will alt sein. Alt sein – das verbinden viele mit Recht vor allem mit Einschränkungen: Mit Krankheit, wechselnden Zipperlein, endlosen Arztbesuchen. Mit dem Ende des Lebens und vielleicht auch mit der Angst davor.

Das Alt sein beschäftigt mich, weil meine Eltern alt sind. Die Augen lassen nach, gut hören geht nur mit Hörgerät, laufen ist mühsam, der Atem geht schwerer. Ich erlebe, was sie einschränkt und an manchen Tagen fällt ihnen das schwer. Der Tod ist manchmal näher, manchmal weiter weg.

Auf einer Reise im Sommer in die Bretagne habe ich aber auch festgestellt, wie vital beide noch sind. Mit allen Einschränkungen. Beide sind immer noch neugierig und haben interessiert die Kathedralen in Reims und Chartres besichtigt. Sie haben begeistert die Küste am Atlantik entdeckt und wahrgenommen, wie sich der Himmel im Lauf des Tages verändert.

Ich habe in dieser Zeit eine andere Sicht aufs alt sein gewonnen.

Mir ist klar geworden, wie wichtig es ist, alte Menschen ernst zu nehmen mit ihren Bedürfnissen aber auch mit den Möglichkeiten, die sie noch haben. Mit ihnen gemeinsam zu entscheiden, was sie noch können und was sie nicht mehr können. Sie auf keinen Fall zu bevormunden. Bei Spaziergängen zum Beispiel, nur weil ich denke, dass mit eingeschränktem Sehvermögen holprige Wege vermieden werden sollten, sie selbst aber durchaus diese Wege gehen wollen.

Und ich habe gefühlt, wie reich jedes einzelne Menschenleben ist. Reich an allem, was es gibt: an Freude, an Glück, an Erfolg und Erkenntnis. Auch reich an Kummer und Leid, an Unerfülltem und Unerlöstem. Meine Eltern sind keine berühmten Leute. Sie leben und bewältigen ihr Leben wie viele von Ihnen, die jetzt Radio hören. Aber wenn ich bedenke, was sie erlebt haben in ihren über 80 Lebensjahren – was sie ertragen und überlebt haben während des Kriegs und ihrer Vertreibung aus Tschechien nach Deutschland. Was sie geleistet haben, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Was sie erlebt haben als Ehepaar seit 58 Jahren, als Eltern von 3 Kindern und Großeltern von 5 Enkelkindern.

Wenn ich mir all das vorstelle, empfinde ich Hochachtung und Ehrfurcht vor ihnen – und vor jedem Menschenleben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25123
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