Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Individualität hat in unserer Gesellschaft einen großen Stellenwert. Das ist gut so. Denn es nimmt ernst, dass jeder Mensch einzigartig ist und verantwortlich dafür, sein Leben zu gestalten. Aber jeder lebt immer auch mit anderen Menschen und ist verantwortlich dafür, dass das gelingt. Es ist anspruchsvoll, die Bedürfnisse jedes einzelnen mit den Bedürfnissen einer Gemeinschaft zu vereinbaren. Das erlebe ich jeden Tag. In der Schule. Als Nachbarin in einem Mehrfamilienhaus. Beim Einkaufen, im Straßenverkehr.

Eine kurze Erzählung macht vielleicht deutlicher was ich meine. In der Geschichte berichtet eine Frau davon, was in ihr alles vorgeht, wenn sie als Fußgängerin an einer roten Ampel steht. Sie sagt: „Wenn ich aus dem Haus gehe, muss ich eine Straße überqueren, deren Ampel sehr lang auf Rot für Fußgänger geschaltet ist. Da kommen in mir viele Gedanken auf, z.B. dass ich es ärgerlich finde, in einer Welt zu leben, die Autos offensichtlich wichtiger nimmt als Menschen. Wie komme ich überhaupt dazu, das zu akzeptieren? Vielleicht sollte ich mich einer Organisation anschließen, die sich für die Rechte von Fußgängern einsetzt? Sollte ich die Ampel ignorieren? Kann ich das verantworten, wenn Kinder in der Nähe sind? Denen gebe ich ein schlechtes Beispiel, weil es für sie gefährlich wäre, bei Rot die Straße zu überqueren. Wäre es dann nicht doch besser, wenn ich immer „schön brav“ warte, bis die Ampel umschaltet? Dann fällt mir ein, dass sich Holländer und Franzosen über uns Deutsche amüsieren, weil wir an jeder roten Ampel warten, egal ob Autos in Sicht sind oder nicht. Was sind wir für untertänige Idioten!? Dafür schäme ich mich jetzt beinahe. Und so geht es weiter in mir. Da scheinen viele Stimmen zu sein, die miteinander streiten, was ich denn nun machen soll, wenn ich diese Ampel vor mir habe.“

Es ist bemerkenswert, was der Frau durch Kopf und Herz geht, solange sie an der roten Ampel steht. Ich kenne das aus ähnlichen Situationen. Zum Beispiel wenn ich Lebensmittel einkaufe und die regionalen Bioprodukte mehr als doppelt so viel kosten als andere.

Immer bleibt, auch in diesen kleinen Alltagssituationen, dass ich verantwortlich bin für mich und für die Gesellschaft zu der ich gehöre.

Beides gut miteinander zu vereinbaren ist eine Aufgabe, die mal leichter und mal schwerer zu lösen ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25122
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