Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Meine Mutter ist 85 Jahre alt. Letztes Jahr im September hat sie zum ersten Mal gesagt, dass sie davon träumt einmal ans Meer zu fahren. Ebbe und Flut zu erleben. Das hat sie noch nie erlebt. Aber in ihrem Alter eine Reise für den nächsten Sommer zu planen ist nicht realistisch. Im Winter war sie dann so krank, dass keiner wusste, ob sie sich noch einmal erholen würde. Ende Mai traute ich mich die Frage zu stellen, ob sie immer noch davon träumt ans Meer zu fahren. Zögerlich und fast ungläubig hat sie bejaht. Ganz am äußersten Zipfel Frankreichs in der Bretagne habe ich kurz vor dem Sommer noch ein Haus direkt am Meer gefunden und gemietet. Bis zum letzten Tag vor der Abreise habe ich damit gerechnet, alles absagen zu müssen.

Inzwischen sind wir seit 6 Wochen wieder zurück. Sind im Auto 1200 km hin und wieder zurück gefahren. Der große Traum meiner Mutter ist in Erfüllung gegangen. Und ich habe erlebt, welche Kräfte dabei frei werden. Meine Mutter sieht schlecht, hört nur mit Hörgeräten gut, hat seit 50 Jahren Diabetes und läuft inzwischen sehr unsicher. Trotzdem haben wir fast jeden Tag kleine Ausflüge unternommen. Sind auf holprigen Wegen am Meer entlang gelaufen. Haben jeden Tag beobachtet, wie das Wasser bei Flut kommt und dann wieder geht. Und abends gestaunt, dass jeder Sonnenuntergang, jede Färbung am Himmel anders ist. Wir haben den Möwen zugesehen, wie sie mit den Wellen tanzen. Und den großen Schiffen, die in weiter Ferne wahrscheinlich nach England gefahren sind. Meine Mutter hat gut geschlafen in fremden Betten und ist nicht krank geworden. Und ich habe gestaunt: Dass sie manchmal mehr wahr nimmt als ich, obwohl sie schlecht sieht. Weil sie sagen kann, wie überwältigt sie ist vom Reichtum der Natur. Weil sie mit 85 Jahren noch immer neugierig ist und verstehen will, zum Beispiel wie es sein kann, dass das Wasser bei Ebbe zurückgeht obwohl es doch immer in die gleiche Richtung fließt. Quicklebendig und glücklich war sie.

Nicht alle Träume gehen in Erfüllung. Dass sich der meiner Mutter erfüllt hat, war ein großes Geschenk. Für meine Eltern und für mich.

Die wichtigste Erfahrung dieses Sommers ist:

Es ist gut Träume zu haben. Sie halten lebendig.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25120
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