Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Eine Frau hat mich tief beeindruckt. Als ihre Freundin schwer an Krebs erkrankt ist und aufs Sterben zuging, hat sie das als Ruf verstanden. Sie hat von einem Tag auf den anderen gewusst, dass sie jetzt bei ihr sein muss. Sie hat alle Hindernisse aus dem Weg geräumt oder vergessen: Dass 500 km sie trennen. Dass sie selbständig eine kleine Firma führt und damit ihr Geld verdienen muss. Dass sie ihren Freundeskreis und so viel Vertrautes zurück lässt. Das hat sie aber alles nicht daran gehindert, den Schritt zu tun. Ich habe mich oft gefragt, weshalb sie das kann, wie sie das schafft, was die Voraussetzung dafür ist. Ich habe mich das nicht zuletzt deshalb gefragt, weil sie und ihre Freundin und ich derselbe Jahrgang sind, und ich von mir wissen wollte, ob ich das auch könnte. Für einen anderen mein Leben so grundsätzlich zu ändern. Aus den gewohnten Bahnen aussteigen. So viel Neues, so viel anders auf einmal?

Die Frau ist nach dem Tod der Freundin nicht wieder an ihren früheren Wohnort zurückgekehrt. Sie hat ihre Firma verkauft und hat das Geschäft ihrer Freundin übernommen: einen Bauernhof, wo sie von den Gästen lebt, die dort ihre Ferien verbringen. Das bringt neue Risiken mit sich und sie hat keine Garantie, dass das auf Dauer funktionieren wird. Aber es geht ihr gut dabei. Ich habe sogar den Eindruck, sie ist glücklich. Ich bewundere ihren Mut, und dass sie so gelassen bleibt, dass es ihr gelingt, von einem Jahr ins nächste zu leben.  Sie strahlt große Kraft und Ruhe aus. Obwohl sie keinen Mann und keine Familie bei sich hat, obwohl sie weniger verdient. Offensichtlich braucht sie das gar nicht mehr. Im Gegenteil: Ihr Radius ist insgesamt kleiner geworden. Eben nicht größer, besser, schneller. Mir scheint, das ist der Schlüssel, um diese Frau zu verstehen. Ihren Weg. Ihr Glück. Und es ist eine gute Chance, um mich selbst zu prüfen, ob ich wirklich glücklich bin, so wie ich lebe. Oder ob ich vielleicht auch etwas ändern muss: etwas aufgeben, etwas loslassen.

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