Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Ein Pfarrer hat mir von einem Erlebnis erzählt, das ihn sehr berührt hat. Er war zu Besuch in einem Gefängnis. Dort traf er auf eine Gruppe Gefangener, die damit beschäftigt waren, Collagen herzustellen. Das Thema dieser Collagen aus Schnipseln von Zeitungen und Zeitschriften war: „Wie stelle ich mir ein gutes und gelungenes Leben vor…oder was ersehne ich mir am meisten, wenn ich wieder hier rauskomme?“
Die einen haben Bilder mit weiten Stränden, Meer und Sonne geklebt, andere haben eine Vielzahl Leckereien aufs Papier gepinnt, oder ein kühles Bier, ein prächtiges Haus und schöne Frauen. Wünsche, die mehr als nachvollziehbar sind, in einer Situation, in der sich das Leben auf wenigen Quadratmetern hinter Gittern abspielt und der Blick aus dem Fenster der Blick in den Gefängnishof ist.
Selber schuld… mögen manche vielleicht denken, aber darum geht es mir grad nicht.
Unter all diesen vollgeklebten Blättern war eines, das besonders aufgefallen ist: Ein nahezu leeres weißes Blatt. Nur das Foto eines einzigen winzigkleinen Gegenstands hatte der Strafgefangene ausgeschnitten und aufgeklebt:
Eine Brille.
Der Pfarrer blieb stehen, bei dem Mann der dieses Bild gemacht hatte und fragte ihn, was er damit ausdrücken wolle.
„Ich möchte gesehen werden.“, sagte er schlicht und doch bestimmt.
Ich möchte gesehen werden, dieser Satz geht mir nicht aus dem Sinn. Im Hinblick auf diesen Häftling und seine Lebenssituation, vielleicht auch seine Geschichte. Dieser kleine Satz bewegt mich aber auch darüber hinaus. Vermutlich weil er mit wenigen Worten auf den Punkt bringt, was auch eine tiefe Lebenssehnsucht des Menschen ist. Jeder möchte gesehen werden.
Und zwar, als der, der er ist. Nicht als das Bild, das sich andere von ihm machen, oder wie er meint sich nach außen geben zu müssen.
Neben wenigen wirklich guten Freunden, die mich mit meinen Licht- und Schattenseiten kennen, glaube ich, dass Einer mich so sieht…sehen kann, wie ich wirklich bin. - Gott.
Gott, der mich liebt und auf mich schaut. Auf mich, einen Mensch, mit Stärken und Schwächen, Wünschen und Träumen…So wie ich bin.
Ich möchte gesehen werden und ich möchte selbst sehend werden. Andere sehen. Die Menschen, die mir heute begegnen wahrnehmen…sie wirklich sehen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=2484
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