Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Mit wenigen Pinselstrichen machte sie aus den Farbklecksen echte Kunstwerke. Die Kinder hatten Farbe auf eine Glasscheibe getropft und anschließend Papier darauf gelegt. Die zerlaufene Farbe erzeugte dann abstrakte Flecken, aus denen die Künstlerin mit ihren kleinen Ergänzungen faszinierende Fantasiewelten entstehen ließ. Die Frau war voller Kreativität und Lebensfreude.

Dabei hätte sie eigentlich allen Grund gehabt, Trübsal zu blasen und ihr Schicksal zu beklagen. Seit einem schweren Verkehrsunfall war sie querschnittsgelähmt und saß im Rollstuhl. Ihr Mann hatte sie verlassen, weil er sich die Ehe anders vorgestellt hatte. Ein echt hartes Schicksal. Und trotzdem: Wenn ich ihr begegnete war sie zuversichtlich und fröhlich. Ich fand, das war alles andere als normal. Sie hatte eine Ausstrahlung und Lebensfreude, die sie nicht nur für Kinder zu einem geschätzten Gegenüber machte. Auch Erwachsene suchten immer wieder das Gespräch mit ihr, um von ihrer Lebenserfahrung zu profitieren. Und von ihrem Glauben.

Die Katastrophe hatte sie ganz neu fragen lassen, wo sie Halt finden und worin jetzt noch der Sinn ihres Lebens bestehen könnte. Jetzt, wo sie ein Pflegefall war und ihren Beruf nicht mehr ausüben konnte. Bei dieser Suche ist sie Gott begegnet. Sie hat beim Lesen der Bibel entdeckt, dass ihr Wert nicht von ihrer Gesundheit und Leistungsfähigkeit abhängt. Und sie hat trotz der harten Schicksalsschläge glauben können, dass sie eine geliebte Tochter ihres Vaters im Himmel ist.

Mir scheint, dass wir es hier mit einer der zahlreichen paradoxen Wahrheiten zu tun haben, die uns in der Bibel begegnen. Jesus sagt im Matthäusevangelium (Mat 5,4): „Selig sind, die Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.“ Das könnte man als Zynismus missverstehen. Aber es geht um etwas anderes. Solange es uns gut geht, fragen viele von uns nicht nach Gott. Wozu auch? Es geht ja auch prima ohne ihn. Dabei bekommen wir gar nicht mir, dass uns eine ganz wichtige Dimension unseres Lebens entgeht: die persönliche Beziehung zu Gott. Zum Vater im Himmel, mit dem wir alle Facetten unseres Lebens teilen können.

Die Frau, hat mir sinngemäß einmal gesagt, die Erfahrung, Gott kennengelernt zu haben, sei ihr inzwischen wichtiger als ihre Gesundheit. Wenn sie wählen müsste zwischen einem Leben ohne Unfall und einem Leben ohne Gott würde sie immer die Beziehung zu Gott wählen. Puh – Das ist eine gewaltige Aussage. Ich weiß, dass sie auch manche dunkle Stunden hatte, in der sie mit ihrem Schicksal gehadert hat. Und trotzdem war es so, dass sie mit Gottes Hilfe aus den Fragmenten ihres Lebens etwas Wertvolles und Schönes machen konnte. Inzwischen ist sie leider verstorben. Aber der Eindruck, den sie auf mich gemacht hat, ist geblieben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=24747
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