Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Zeugnistag! – Viele Schülerinnen und Schüler werden sich heute freuen über ihre guten Noten. Andere werden mit der Bilanz des vergangenen Schuljahres einigermaßen leben können. Aber für manche wird das Zeugnis heute eine Katastrophe.

Auch bei dem Liedermacher Reinhard Mey war das einmal so. In einem seiner Lieder erzählt er: Als Zwölfjähriger ist für ihn eine Welt zusammengebrochen, als das Zeugnis vor ihm lag. Nicht einmal für eine Vier in Religion hatte es gereicht. Er hätte nie geglaubt, singt er „so ein totaler Versager zu sein“.

Reinhard Mey musste sein Zeugnis zuhause unterschreiben lassen. Aber er hatte Angst, die schlechten Noten seinem Vater und seiner Mutter zu zeigen. Deshalb hat er die Unterschriften seiner Eltern gefälscht. Der Schulrektor hat den Schwindel sofort bemerkt und Reinhard mit seinen Eltern aufs Rektorat bestellt. Aber es kam anders, als es der Rektor und auch Reinhard Mey erwartet hatten: Die Eltern haben zuerst das Zeugnis und dann ihren Sohn angeschaut. Und dann haben Vater und Mutter gesagt: „Ja, das sind unsere Unterschriften. Komm, Junge, lass uns gehen“. – Diese Reaktion seiner Eltern ist Reinhard Mey in Erinnerung geblieben. Er hat nie vergessen: „Wie gut es tut zu wissen, dass dir jemand Zuflucht gibt / ganz gleich, was du auch ausgefressen hast!“

Zu jemandem stehen, egal was derjenige verbockt hat. – Ich finde, das ist eine göttliche Eigenschaft. Für den Reformator Martin Luther war es die Erfahrung seines Lebens als er gemerkt hat: Gott ist nicht zornig auf mich. Er bestraft mich auch nicht. Er steht zu mir, auch wenn meine Leistungen ungenügend sind.

Derselbe Martin Luther hat auch gesagt: Die Aufgabe der Eltern ist es, Gottes Liebe und Güte an die Kinder weiterzugeben. Ich denke, das heißt nicht, dass es mir als Vater oder Mutter egal sein soll, welche Noten mein Kind nach Hause bringt. Ich glaube, auch die Eltern von Reinhard Mey werden mit ihrem Sohn zuhause über sein schlechtes Zeugnis geredet haben. Gottes Güte weitergeben heißt: Ich mache als Vater oder Mutter meine Zuwendung nicht von dem abhängig, was mein Kind leistet. Sondern ich zeige ihm, dass ich es lieb habe. Und ich helfe ihm, wo Hilfe nötig ist.

Den Eltern von Reinhard Mey ist das gelungen. Ich hoffe, es gelingt auch den Eltern, deren Kind heute mit einem schlechten Zeugnis nachhause kommt – oder den Großeltern. Mit dem schlechtesten Zeugnis meiner Schulkarriere bin ich erst mal zu meiner Oma.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=24678
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