Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

(Leitwort des Kirchentags)

„Du siehst mich nicht!“ Das Spiel ist so einfach – und fasziniert seit eh und je. Irgendwann entdecken Kinder, welchen Spaß es macht, sich zu verstecken. Erst mal halten sie sich einfach die Augen zu und glauben, wenn ich die andern nicht mehr sehe, dann sehen sie mich auch nicht. Später wird’s dann etwas anspruchsvoller: Man sucht ein Versteck, auf das der andere nicht sofort kommt – und hat einen Heidenspaß daran, wenn der dann möglichst lange suchen muss.

Was macht dabei mehr Spaß, sich zu verstecken – oder: gesucht zu werden? Wer mit Kindern spielt, weiß: Es ist das Gesucht werden, um das es eigentlich geht. Und wenn ich kein Spielverderber sein will, dann spiele ich einfach mit und suche hier und dort und überall, selbst wenn ich den kleinen Fuß unterm gebauschten Vorhang längst gesehen habe.

Das Spiel vom Verstecken und Suchen und Gesucht werden, es begleitet uns durchs ganze Leben. Die Mittel und Möglichkeiten werden mit den Jahren raffinierter, aber in Vielem, was ich tue oder nicht tue, geht es um die Grundfrage: Wie wichtig bin ich für andere? Werde ich überhaupt vermisst, wenn ich weg bin? Oder fällt es gar nicht weiter auf? Macht sich jemand die Mühe, mich „zu suchen“ – nicht hinterm Schrank oder unterm Bett wie früher als Kind. Sondern dort, wo ich mich heute gern verstecke: Zum Beispiel hinter dem möglichst positiven Bild, das ich anderen von mir zeige. Weil ich glaube, dass sie mich nur mögen, wenn ich perfekt bin.

„Du siehst mich“. So heißt das Leitwort des Evangelischen Kirchentags, der bis Sonntag in Berlin und Wittenberg stattfindet. 140 000 Menschen haben sich angemeldet. Sie wollen aufeinander zugehen, einander anschauen, einander Ansehen geben. Unabhängig davon, wo sie herkommen oder ob sie in allem immer einer Meinung sind.

Auch wenn wir nicht am Kirchentag teilnehmen, darauf könnten wir in diesen Tagen doch alle mal achten. Menschen wahrnehmen, für die wir sonst keine Augen haben. Die quasi erst mal ‚gesucht‘ werden müssen. Nicht hinter der Gardine wie früher als wir Kinder waren, sondern auf der Straße oder am Bankschalter, im Klassenzimmer, beim Bäcker. Und vielleicht fangen wir mit dem Sehtraining ja schon gleich am Frühstückstisch an.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=24293
weiterlesen...