Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Ein Paar zieht in eine neue Nachbarschaft. Beim Frühstück am ersten Morgen sieht die Frau ihre Nachbarin draußen Wäsche aufhängen. „Diese Wäsche ist nicht sauber,“ sagt sie. „Sie weiß nicht, wie man richtig wäscht! Dass es so was gibt? Wahrscheinlich konnte schon ihre Mutter nicht richtig waschen. Oder braucht sie vielleicht nur ein besseres Waschmittel?“ Ihr Mann sieht kurz hin, sagt aber nichts. Jedes Mal, wenn die Nachbarin Wäsche zum Trocknen aufhängt, macht die Frau eine solche Bemerkung.

Ein paar Wochen später sieht sie plötzlich im Nachbargarten schöne saubere Wäsche an der Leine hängen. Überrascht ruft sie ihren Mann und sagt: „Das musst du sehen, endlich hat sie gelernt, wie man richtig wäscht! Irgendjemand muss sich getraut haben, ihr zu sagen, wie man das macht!“ Daraufhin sagt ihr Mann: „Ich bin heute Morgen ganz früh aufgestanden und habe unsere Fenster geputzt.“

Witze und gute Geschichten sollte man nicht kaputtreden. Weil sowieso jeder sofort versteht. Auch die Geschichte von der Wäsche und den Fenstern gehört dazu; der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho hat sie erzählt. Es geht um die peinliche Erfahrung: Da entrüste ich mich über jemand und merke gar nicht, dass ich doch selbst auf dem Holzweg bin.

Mir geht aber noch etwas ganz anderes durch den Kopf. Warum meint die Frau in der Geschichte denn, dass alle ihre Nachbarinnen denselben Ehrgeiz haben müssen, blütenweiße Wäsche auf der Leine zu haben? Was wäre denn so schlimm daran, wenn es nicht an den schmutzigen Fenstern läge, sondern wirklich an der Wäsche? Warum können Kleinigkeiten zu solchen Aufregern werden? Warum lasse ich mich so leicht provozieren, wenn andere anders leben als ich? Solange sie anderen nicht schaden und sich selbst auch nicht, kann mir doch eigentlich egal sein, wie sie leben. Meine Erfahrung ist: Wenn ich mit meinem eigenen Lebensstil wirklich gut und zufrieden leben kann, dann gelingt mir das auch. Dann kann ich andere auch in Ruhe lassen und muss mich gar nicht mehr so oft über sie aufregen.

Aber das wäre schon wieder eine eigene Geschichte. Und wenn ich Paulo Coelho wäre, würde ich sie vielleicht schreiben.

 

 

 

 

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