Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Wie schnell mache ich mir manchmal ein Bild von jemand. Das ist an sich nicht schlimm. Schwierig wird es (nur) dann, wenn ich meine Sicht der Dinge für  absolut richtig halte. Dazu erzähle ich Ihnen heute eine Geschichte:

In einem Königreich lebten einst fünf weise Gelehrte. Und sie alle waren blind. Ihr König schickte sie auf eine Reise, um herauszufinden, was ein Elefant ist. Sie standen um das Tier und versuchten, sich durch Ertasten ein Bild von dem Elefanten zu machen. Wieder zurück beim König sollten sie über den Elefanten berichten. Der erste blinde Gelehrte hatte das Ohr des Tieres ertastet und begann: „Der Elefant ist wie ein großer Fächer“. Der zweite Blinde, der den Rüssel berührt hatte, widersprach ihm: „Nein, er ist ein langer Arm“. „Stimmt nicht, er fühlt sich an wie ein Seil mit ein paar Haaren am Ende“, entgegnete jener Gelehrte, der den Schwanz des Elefanten ergriffen hatte. „Er ist wie eine dicke Säule!“, berichtete der vierte blinde Gelehrte, der das Bein ertastet hatte. Und der fünfte, der den Elefantenrumpf berührt hatte, meinte: „Der Elefant ist wie eine riesige Masse mit einigen Rundungen und Borsten darauf.“ Sie konnten sich nicht einigen, was ein Elefant wirklich ist. Aufgrund ihrer widersprüchlichen Aussagen, fürchteten die Gelehrten den Zorn des Königs. Doch der König lächelte weise: „Ich danke euch, denn nun weiß ich, was ein Elefant ist. Ein Elefant ist ein Tier mit Ohren wie Fächer, mit einem Rüssel, der wie ein langer Arm ist, mit einem Schwanz, der einem Seil mit ein paar Haaren daran gleicht, mit Beinen, die wie starke Säulen sind und mit einem Rumpf, der wie eine große Masse mit einigen Rundungen und ein paar Borsten ist.“ Die Gelehrten senkten beschämt ihren Kopf, nachdem sie erkannten, dass jeder von ihnen nur einen Teil des Elefanten ertastet hatte und sie sich zu schnell damit zufriedengegeben hatten.

Und so geht es auch mir – die Geschichte lehrt mich demütig zu sein: Niemals werde ich etwas oder jemand vollkommen erfassen und begreifen können. Ich erkenne immer nur einen Teil der Wirklichkeit und jeder von uns hat seine eigenen Wahrheiten, weil wir individuell wahrnehmen. Die Geschichte lehrt mich auch etwas mit Blick auf Gott. All mein Tasten und Suchen nach ihm wird immer bruchstückhaft bleiben. Und auch das ist gut so – weil er so der immer ganz Andere bleibt, ein Geheimnis, das ich nicht fassen kann und das größer ist, als ich.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=23928
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