Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Seitdem ich mit meinen Eltern erlebe, was es bedeutet alt zu werden, weiß ich, dass das nicht leicht ist. Wenn ich recht überlege, habe ich mich davor nicht wirklich damit beschäftigt.

Jetzt spüre ich: Alt werden ist eine eigene Aufgabe.

Beim Geburtstag meiner Mutter im letzten Jahr habe ich das deutlich erlebt. Schon seit einigen Jahren frage ich mich, wie lange sie ihn noch feiern kann. Letztes Jahr ist sie 85 geworden. Ein halbes Jahr davor hat meine Mutter dann doch angefangen zu planen. Sie hat Verwandte und Freunde eingeladen, Essen und Übernachtungsmöglichkeiten reserviert. Zwei Wochen vorher wurde sie krank. Aus der Traum. Nun kann man natürlich sagen: das kann in dem Alter immer vorkommen. Damit muss man rechnen. Stimmt. Aber die Enttäuschung war umso größer, weil keiner weiß, ob es einen nächsten Geburtstag und ein großes Familienfest geben wird.

Im Alltag ist für meine Mutter das Alt werden am schwersten. Sie spürt jeden Augenblick, dass ihre Kräfte nachlassen. Zum Beispiel beim kochen und backen. Meine Mutter liebt es. An guten Tagen geht das immer noch unglaublich schnell und scheinbar mühelos. Aber sie hat nicht mehr die Kraft ihre großen Töpfe zu heben, den Wasserkocher anzufüllen oder einen Krautkopf zu zerschneiden. Wie schwer ihr das fällt, kann nur verstehen, wer sich in sie hineinversetzt. Sieht man nur die Fakten denkt man schnell: Na so schlimm ist das nun wirklich nicht.

Für sie ist es schlimm, weil sie es ihr Leben lang konnte.

Eine Bekannte, die Ähnliches mit ihrer Mutter erlebt, hat vor kurzem sehr einfühlsam gesagt: Es ist unglaublich, dass man gerade im Alter, wenn die Kraft weniger wird, so viel Kraft dafür aufbringen muss, zu ertragen, dass die Kraft weniger wird.

So ist es! Und dann gibt es da noch eine andere Seite. Alles was man tut oder eben nicht mehr tun kann, wird einem bewusster. Wenn meine Mutter die Geburtstagstorte für ihren Sohn in diesem Jahr doch noch mal backen kann, ist das Glück. Ich wünsche ihr, dass sie das oft so fühlen kann. Alles, was doch noch geht, ist schön, nicht selbstverständlich: Die vielen Treppen steigen, in dem Haus, in dem sie seit 50 Jahren wohnt. Sich selbst noch waschen und anziehen können. Kreuzworträtsel lösen und Briefe schreiben. Ich wünsche ihr, dass sie manchmal dabei denken kann:

Danke, dass das immer noch geht. Das ist dann fast wie ein Gebet.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=23587
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