Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Ich wäre im Traum nicht darauf gekommen, dass dieser Mann in einer Heavy Metal Band Gitarre spielt. Ich kenne ihn als Vater von zwei Jungs. Sehr fürsorglich und sanft. Herzoffen. Promovierter Ingenieur. Gewissenhaft und eher zurückhaltend. Ich habe ihn zufällig getroffen, als er auf dem Weg ins Tonstudio war. Seine Band war gerade dabei eine CD aufzunehmen. Auf meine neugierige Frage nach der Musikrichtung hat er lachend geantwortet. Er weiß selbst, dass er nicht dem Bild eines Heavy Metal Musikers entspricht. Insgesamt drei Mal ist mir das in den letzten Monaten so mit Menschen gegangen.

Einen Vater von zwei kleinen Kindern habe ich besorgt über seinen Sohn reden hören. Er hat sich unglaublich viele Gedanken darüber gemacht, welche Schule für sein Kind richtig ist. Er hatte noch gesagt, dass er freiberuflich arbeitet und ich dachte, wahrscheinlich ist er Berater. Bis ich irgendwann erfahren habe, dass er hauptberuflich Clown ist.

Und dann im Sommer war ich mit meiner Nichte für eine Woche im Urlaub. Sie hat ihre langen lockigen Haare zu Dreadlocks gefilzt und mit Perlen verziert. Sie trägt sie würdevoll und stolz. Und pflegt sie hingebungsvoll. Jeder, der sie beobachtet, kann sehen: Ihre Haare sind mehr als Haare. Es geht ihr auch nicht nur darum, schön zu sein. Wer die junge Frau kennt, wundert sich. Ihre Haare passen erst mal nicht zum Bild, das man von ihr hat. Mit ihren Dreadlocks will sie sagen: Ich bin anders als du denkst. Leg mich nicht fest. Steck mich in keine Schublade. Sei dir nicht zu sicher. Meine Wahrheit und deine Wahrheit sind verschieden. Halte aus, wenn ich dich verwirre. Urteile nicht. Sei neugierig. Lerne mich kennen.

Wenn ich an den Heavy Metal Musiker, den Clown und meine Nichte mit den Dreadlocks denke, muss ich schmunzeln. Über mich selbst. Da predige ich schon so lange darüber wie wichtig es ist, Menschen unvoreingenommen zu begegnen. Und dann stelle ich bei mir selbst fest, wie schnell das im Alltag passiert. Dass ich vor eingenommen bin und mir ein Bild davon mache, wie ein Mensch ist. Ich freue mich, dass mich das Leben so humorvoll darauf aufmerksam macht offen zu bleiben jedem Menschen gegenüber. Denn:

Er könnte auch ganz anders sein als ich mir das vorstelle.

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