Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Warum packe ich eigentlich so extrem ungern? Das habe ich mich lange Zeit gefragt. Wo ich doch so gern verreise. Warum kommt bei mir immer so eine Mischung aus Widerwillen und Genervtheit auf, wenn ich den Koffer von der Bühne hole? Und warum empfinde ich sowas wie Wehmut und Angst, wenn ich nur x Kleider für y Wochen auswählen muss? Ich habe Jahre gebraucht bis es mir klar geworden ist. Da steckt die Fluchterfahrung meiner Eltern und Großeltern drin. Von einem Tag auf den anderen mussten sie im zweiten Weltkrieg die Koffer packen. Und zwar nicht für eine Geschäftsreise oder einen Sommerurlaub, sondern für die Flucht aus ihrer Heimat. Was muss das für ein Gefühl gewesen sein? Und was packt man da in seinen Koffer rein? Es war heilsam für mich irgendwann zu erkennen: immer wenn du einen Koffer packen musst, schwingt auch diese existentielle Erfahrung meiner Herkunftsfamilie mit. Ihr Schmerz die Heimat verlassen zu müssen, ihre Furcht vor der Flucht und ihre Angst vor dem was sie wo auch immer erwarten wird.

Mittlerweile packe ich zwar noch immer nicht gern, aber ich weiß jetzt warum ich das so ungern tue und kann dadurch besser damit umgehen. Für mich war diese Erkenntnis aber auch anderer Hinsicht heilsam. Durch sie  ist mir klar geworden, dass es nicht nur ein materielles Erbe gibt, sondern auch ein seelisches. Dass der Mensch ausgesprochene, aber gerade auch unausgesprochene Erfahrungen, Träume und Traumatisierungen weiter gibt. Und manchmal ist es dann so, dass ein Enkel oder gar Urenkel genau das spürt, was ohne Worte über Generationen weitergegeben wurde. Oder sogar darunter leidet.

Und meine Kofferpackallergie hat mich schließlich auch unser heutiges Flüchtlingsthema mit anderen Augen sehen lassen. Als ich die Bilder der Flüchtlinge gesehen habe, mit ihren Rucksäcken, Handys und Wasserflaschen, hab ich mich gefragt, wie es wohl für sie war zu packen für ihre Reise. Welcher Schmerz es wohl für sie war ihre Heimat verlassen zu müssen. Welche Furcht sie vor der Flucht hatten und welche Angst vor dem was sie erwarten wird. Und ob auch eines ihrer Kindes oder Kindeskinder einmal so ungern packen wird wie ich…

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