Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Menschen, die immer nur gesund sind, sind wie solche, die noch nie eine weite Reise gemacht haben. Das hörte ich von einem Bekannten, der lange krank gewesen war. Ich kann mir vorstellen, dass eine Krankheit ein Schlüssel ist, der Türen zu einem ganz unbekannten Bereich öffnet. Bestimmte Türen kann einzig und allein eine Krankheit öffnen. Etwa mit der Erfahrung, ganz allein zu sein und wie vor einem Berg zu stehen, den man nun bewältigen muss. Oder das Erlebnis, auf einmal angewiesen zu sein auf andere Menschen, die man bisher nicht kannte. Diese Erfahrung hat ein gesunder Mensch vorher nicht gemacht. Wenn ich gesund bin, lebe ich gerne in einer Gemeinschaft von Menschen , die ich kenne und mit denen ich vertraut bin. Aber nun bin ich krank und muss mich auf andere Menschen verlassen, ein Stück weit habe ich mich und mein Leben aus der Hand gegeben. Später, wenn ich mich zurück erinnere an die Zeit meiner Krankheit, kommen sie mir wieder in den Sinn, die Menschen , die mir mit ihrer Geduld und ihrer Zuwendung geholfen haben, manchmal sogar meine Angst zu vergessen.

Wenn ich gesund bin, bin ich ein reich gesegneter Mensch. Und doch fehlt mir etwas, das mir bisher noch gar nicht bewusst war. So kann ich schwer verstehen, warum sich mein Freund immer wieder zurückzieht, ohne besondere Erklärung. Bis ich merke, dass er nicht mehr kann. Oder mir fehlt die Fähigkeit wahrzunehmen, dass meine kranke Schwester sich überhaupt nicht für die Sportnachrichten interessiert, auf die sie sonst so scharf war. Statt dessen erzählt sie von Erinnerungen an frühere Zeiten, die für mich keine Rolle mehr spielen.

Menschen, die immer nur gesund sind, sind wie solche, die noch nie eine weite Reise gemacht haben. Eine Krankheit öffnet neue Horizonte, ich kann vieles nicht mehr machen, was bisher selbstverständlich war, ich erleide etwas, was mir feindlich ist. Eine Krankheit gehört zum Leben. Ob sie sich langsam hereinschleicht in mein Leben oder ob sie plötzlich wie aus
heiterem Himmel zuschlägt, immer verändert sie meinen Blick, vor allem in die Zukunft. Sie wird zum Schlüssel für neue Einsichten, wie die Erlebnisse einer weiten Reise. Sie bringt
Fragen aus dem Verborgenen ans Licht: Worauf kann ich jetzt bauen? Wofür lohnt es , sich
mit ganzer Kraft und allen Sinnen einzusetzen? Wie meine Gesundheit, so ist auch meine Krankheit von Gott gegeben, damit ich klug werde, das heißt damit ich meine Grenze
annehme.
Aber nicht nur Gott kann ich in meiner Krankheit begegnen, ich begegne auch Menschen in ihrer ungeahnten Hilfsbereitschaft. Ich begegne Zeichen der Liebe. Ich begegne Menschen,
die bereit sind, Zeit und Energie für mich einzusetzen. Ich glaube: Das ist das Wichtigste,
dass ich nicht allein auf diese weite Reise der Krankheit gehen muss. Denn dann kann ich
auch besser mit meiner Angst fertig werden.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=2329
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