Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„So sind die Menschen fürwahr! Und einer ist wie der andere, der zu gaffen sich freut, wenn den Nächsten ein Unglück befällt“, vermerkt Hofrat Johann Wolfgang von Goethe, als wär er vor kurzem auf der A 8 dabeigewesen. Dort behinderten wieder einmal Gaffer die Rettung eines Schwerverletzten. Eines konnte Goethe damals freilich nicht einmal erahnen: Dass die neugierigen Zeitgenossen von heute die Schreckensbilder filmen und weiter posten. Dann können sich auch andere noch am Unglück weiden. 

 

„Man glaubt es nicht“, sagt mir ein Rettungssanitäter, „die knipsen erst, bevor sie Hilfe holen, geschweige denn, dass sie Erste Hilfe leisten würden“. Und ein Feuerwehrmann gestand mir, dass er einem Amateur-Filmer fast eine gescheuert hätte. Der hatte ihn bei der Bergung eines Toten aus einem Unfallfahrzeug zur Seite gestoßen, um besser fotografieren zu können. Rettungsfahrzeuge führen heute schon teilweise Sichtschutzwände mit, um ungestört arbeiten zu können.  

 

Ist das nicht schamlos, was da abgeht? Mir kommen Worte aus Psalm 22 in den Sinn, in dem ein leidgeprüfter Mensch zu Gott schreit: „Sei nicht ferne von mir, denn hier ist kein Helfer. Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, meine Zunge klebt mir am Gaumen. Man kann alle meine Knochen zählen, aber sie gaffen nur und weiden sich an mir...“ 

 

Unter Garantie: Keiner der Voyeure möchte selbst angeglotzt werden oder sich in Facebook oder wo auch immer begegnen, wie er schwerverletzt in einer Gosse liegt oder in einem zerknautschen Fahrzeug um sein Leben kämpft. Wenn einem Menschen Leid widerfährt, geht es nur um eines, nämlich ihm schnell und wirksam zu helfen. 

 

Nun soll wieder einmal das Strafgesetzbuch natürliche Schamgrenzen ersetzen. Wirksamer wäre es, die Gaffer und ihr Verhalten gesellschaftlich zu ächten. Wer im Netz spektakulären Unglücksbildern begegnet, sollte sich mit Abscheu wenden und – sofern möglich – die Kameraleute zur Rede stellen. Das gebietet uns – unabhängig von Religion und Bekenntnis – allein schon der pure Anstand und die Ehrfurcht vor dem Leben.

 

 

 

 

 

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22664
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