Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Es gibt Krankheiten und psychische Störungen, von denen hatte man früher keine Ahnung. Bei Erwachsenen zum Beispiel das Burnout-Syndrom. Oder bei Kindern ADHS. Ich kann mich nicht erinnern, dass in meiner Kindheit und Jugendzeit ein Erwachsener ein Burnout hatte oder ein Mitschüler ADHS. Es scheint, dass es diese Störungen damals gar nicht gegeben hat.

Aber das stimmt nicht. Ein Psychologe hat einmal gesagt: Das Burnout-Syndrom ist nichts Neues. Man hat es früher nur anders genannt: Statt von Burnout hat man von Erschöpfung geredet. – Ich denke mit ADHS ist es ähnlich: Hibbelige Kinder, die sich schlecht konzentrieren können, hat es früher auch gegeben. Aber man hat das nicht als Krankheit gesehen.

Warum wird das, was man früher für eine Schwäche gehalten hat, heute als Krankheit bezeichnet? Ich denke, ein Grund ist: Nur wer krank ist, dem erlaubt man heute, sich um seine Schwächen zu kümmern. Wer sagt: „Ich bin total erschöpft“, der bekommt zu hören: „Reiß dich zusammen!“. Wer dagegen eine ärztliche Diagnose vorzeigen kann, dem gesteht man zu, auf seinen Schwächen Rücksicht zu nehmen.

Und es gibt noch einen Grund: Schwächen werden immer weniger akzeptiert. Schwächen haben im normalen Leben nichts verloren. Normal sein heißt stark, leistungsfähig und angepasst sein. Und wer das nicht ist, der ist halt krank. Dahinter steckt ein Bild vom Menschen, das mir nicht gefällt. Es sagt: Menschen haben normalerweise keine Schwächen. Und wenn sie welche haben, dann stimmt mit ihnen etwas nicht. Dann sind sie krank. So möchte ich die anderen nicht sehen. Und so möchte ich mich auch selbst nicht sehen.

In der Bibel lese ich etwas ganz anders: Der Mensch ist von Gott stark geschaffen worden. Fast schon göttlich, heißt es da, mit einer besonderen Ehre und Würde (Psalm 8). Aber gleichzeitig betont die Bibel auch die Schwäche des Menschen. „Wie Gras“ sei der Mensch, wie eine Blume auf der Wiese, die vom Winde hin und her geweht wird (Psalm 103). Beides gehört zum Leben eines Menschen: stark sein, aber auch schwach sein.

Es scheint sogar, dass Gott eine Schwäche für die Schwächen der Menschen hat. In der Bibel hat Gott für die ganz großen Aufgaben oft Menschen mit einem Symptom ausgewählt. Mose etwa konnte schlecht reden. Manche vermuten: Er hatte einen Sprachfehler. Und Paulus hatte mit chronischen Schmerzen zu kämpfen. Schwächen gehören zum Leben dazu. Der Psychotherapeut und Philosoph Erich Fromm hat sogar einmal gesagt: „Die kränksten Menschen sind die normalsten, glücklich, wer ein Symptom hat“.

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