SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.“

Mit dieser Strophe beginnt ein Gedicht von Rainer Maria Rilke, in dem er für ein Sprechen wirbt, das den Dingen, der Wirklichkeit, ihr Eigenleben lässt. Er fürchtet sich vor einem eindeutigen Sprechen, das den Dingen ihr Geheimnis nimmt. Eindeutiges Sprechen erscheint uns aber heute gerade wünschenswert, ja unerlässlich.

Warum fürchtet der Dichter ein Wort, das die Dinge klar und eindeutig bei ihrem Namen nennt? In der zweiten Strophe nennt Rilke den Grund seiner Furcht:

„Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar
i
hr Garten und Gut grenzt grade an Gott.“

Das präzise und eindeutige Sprechen ist für den Dichter eine Anmaßung. Es geht einher mit der Illusion, alles zu wissen, was wird und was war. Es ist ein Sprechen ohne Staunen. Ein Sprechen, das alles ausklammert, was menschliches Erkennen und Begreifen übersteigt, was nicht in Besitz genommen und überprüft werden kann.

Die Anmaßung eines solchen Sprechens, das so tut, als gäbe es keine Ungewissheit, gilt sowohl für die Spötter, die keinen Glauben haben, als auch für die gelehrten Gläubigen, die Theologen: „ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.“ Sie definieren religiöse Wahrheit und verwechseln ihre Definitionen, die sie pflegen und hüten wie ihren eigenen Garten, mit der Wirklichkeit Gottes, die draußen bleibt.

Vor diesem Hintergrund ist die Angst des Dichters verständlicher geworden. Seine Furcht vor dem allzu eindeutigen Wort. Was ist nun sein Rat?

„Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
I
hr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
I
hr bringt mir alle die Dinge um.“

„Die Dinge singen hör ich so gern.“ Der Dichter will, dass die Dinge selber sprechen können. Er will sie singen hören. Singendes Sprechen stellt nichts fest, sondern ist Ausdruck der Lebendigkeit dessen, was singt. Der Dichter freut sich an der Lebendigkeit der Dinge, der ganzen Wirklichkeit, und bittet darum, ihr diese Lebendigkeit zu erhalten. Mit einem hörenden Sprechen.

Diese Bitte gilt auch gerade für ein Sprechen von Gott: Es soll nicht abgrenzen, sondern öffnen: auf ihn horchen wie  auf ein Singen in allem, was lebt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22354
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