Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Was zählt im Leben? Auf diese Frage gibt es viele Antworten. Eine eindrückliche habe ich in einer Geschichte über eine Taxifahrt gefunden: Ich erzählte sie Ihnen:

Der Taxifahrer hupte, als er spätabends an die genannte Adresse kam. Niemand erschien. Ärger­lich stieg er aus und klingelte. Durch die Tür hörte er eine alte Stimme sagen: „Einen Augenblick noch!“  5 Minuten später stand eine zerbrechlich wirkende Dame vor ihm, be­stimmt 90 Jahre alt. In der Hand hielt sie einen kleinen Kof­fer. Durch die Tür konnte er in die Wohnung sehen. Die Möbel waren mit Tüchern bedeckt, die Wände und Regale leer, in der Ecke ein Karton.

Als die Frau im Wagen Platz genommen hatte, gab sie ihm die Zieladresse und fragte, ob sie durch die Innenstadt fahren könnten. „Das ist ein ziemlicher Um­weg!“, mein­te der Fahrer. „Ich bin nicht in Eile“, sagte die Frau. „Ich bin auf dem Weg ins Hospiz.“ „Ins Hospiz?“. Der Fahrer begriff: „Dahin, wo Menschen sterben?“ Er schaltete das Taxameter aus.

In den nächsten Stunden fuhr er die Frau zu den unter­schiedlichsten Orten. Bei manchen erzählte sie aus ihrem Leben. An anderen bat sie ihn  nur, langsam zu fahren und schien mit ihren Gedan­ken auf eine Reise zu gehen. Endlich sagte die alte Dame: „Ich bin müde. Jetzt können wir zu meinem Ziel fahren.“

Das Hospiz wirkte wie ein freundliches Ferienhaus. „Wie viel bekommen Sie von mir?“ fragte die Frau. „Nichts“, antwortete der Taxifahrer. „Sie haben einer alten Frau auf ihren letzten Metern noch ein bisschen Freude und Glück geschenkt.“ sagte die Dame lächelnd, „Danke!“

Der Taxifahrer geleitete sie zum Eingang, wo eine Mitarbeiterin sie in Empfang nahm. Er drückte der Frau fest die Hand und ging zurück. Hinter sich hörte er die Tür zufal­len. Es klang wie der Abschluss eines Lebens.

Seine Schicht war noch nicht zu Ende, aber der Taxifahrer nahm keine Fahrgäste an. Stattdessen fuhr er ziellos durch die Straßen. Traurig – und nachdenklich. „Was zählt eigentlich im Leben?“, fragte er sich. Hecheln nach Erfolg ist es nicht, das hatten ihm die Stunden mit der alten Dame gezeigt. Viel wichtiger ist, dass man einem Menschen Zeit schenkt. Und die Erinnerungen würdigt, die ein Leben ausmachen. Ein tiefes Gefühl von Dankbarkeit erfüllte den Fahrer. Dankbarkeit für die Zeit, die er der Frau schenken durfte. Dankbarkeit für ihr Leben. Dankbarkeit für das Leben, das vor ihm lag. Am Horizont ging langsam die Sonne auf.



Nacherzählt nach: https://netzfrauen.org/2014/11/30/zum-nachdenken-dies-schrieb-ein-new-yorker-taxifahrer-nyc-taxi-driver-wrote/

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22012
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