Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Jesus trägt Judas. Den Mann, der ihn verraten hat.
Überrascht habe ich vor dieser Darstellung in der Kirche des französischen Dorfes Vézelay gestanden. Ein Künstler im 12. Jahrhundert hat es dort in Stein gemeißelt: Jesus trägt Judas. Ausgerechnet den Judas.

Judas war ein Freund von Jesus. Einer von den zwölf Jüngern. Und doch hat er den Gegnern von Jesus den Tipp gegeben, wo sie ihn finden und verhaften könnten. Er hat Geld dafür bekommen. Bis heute diskutieren Menschen, warum er das getan hat. Ist es ihm um das Geld gegangen? Oder hatte Jesus ihn enttäuscht oder geärgert? Oder wollte Judas ihn mit dieser Aktion ins Scheinwerferlicht schieben, wollte er Jesus dazu bringen, sich endlich öffentlich gegen die römischen Besatzer zu stellen?

Warum auch immer: jedenfalls hat Judas Jesus verraten. Man hat Jesus dann verhaftet und hingerichtet. Judas hat es später bereut, wollte das Geld wieder zurückgeben. Am Ende hat er sich umgebracht. Das war’s für Judas, sollte man meinen.

Der Steinmetz in der französischen Kirche hat das anders gesehen. Er hat zwei Szenen gemeißelt. Auf der einen Seite Judas, der sich umgebracht hat. Mit erstarrten Gesichtszügen hängt er an einem Baum. Auf der anderen Seite die unerwartete Fortsetzung der Geschichte: der auferstandene Jesus, der sich den toten Judas über die Schulter gelegt hat. So wie ein guter Hirte ein verlorenes Schaf heimbringt.  Jesus hatte ja erzählt: So geht Gott mit Menschen um, die sich verirrt haben. Und so trägt Jesus nun den Judas.

Ich finde das genial, was dem Künstler da eingefallen ist. Er nimmt ernst, was die Bibel erzählt: dass der sterbende Jesus für die gebetet hat, die ihm das angetan haben. Schon das ist ja eigentlich unfassbar. So unfassbar wie ein Jesus, der Judas heimträgt.

Mich tröstet dieser Gedanke: dass am Ende dann doch nicht die eigene Verzweiflung steht. Und auch nicht das, was ein Mensch angerichtet hat. Am Ende bleibt nicht der Tod, sondern die Kraft der Liebe Gottes. Die holt auch den noch heim, der womöglich nichts mehr glaubt und nichts mehr hoffen kann. Auch den, den alle aufgegeben haben.

Das letzte Wort hat nicht das, was ich zustande bringe, und nicht das, worin ich gescheitert bin. Das letzte Wort hat der auferstandene Christus. Und der trägt. Nicht nur den Judas.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21835
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