Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Am Anfang war es ein Skandal, das neue Kruzifix in der Kirche in Hohenwart bei Pforzheim. Jürgen Goertz, ein moderner Künstler, hatte den Körper Jesu am Kreuz nach seinen Vorstellungen neu gestaltet. Und zwar ganz anders als gewohnt.  Kein schmerzverzerrtes Antlitz, kein gekrümmter Körper.

Sondern ein schöner Mensch mit muskulösen Gliedern und mit glatter Haut. Sein langes Haar ist sanft gewellt. Auf den Lippen liegt fast so etwas wie ein Lächeln. Aber wenn man nahe herantritt, dann sieht man: Dieser Mensch ist nicht nur schön. Dunkle Risse sind unter der Haut zu sehen, dort, wo das Tonmaterial gesprungen ist. Und man kann auch die Schmerzen ahnen in der unnatürlichen Haltung und in der Anspannung in diesem Körper. Würde man sich selbst so hinstellen, man könnte sich nicht halten und würde fallen.

Die eine Hand vor der Brust presst einen Kelch so sehr, dass der Inhalt herausfließt. Die andere Hand hält über dem Kopf  eine Schale mit einem halben Laib Brot. Das erinnert mich daran, dass Jesus gesagt hat: Mit meinem Tod vergieße mein Blut für Euch wie diesen Wein. Und meinen Leib breche ich für Euch, wie dieses Brot.  Doch mit den Fingern, da greift dieser Christus - ein einzelnes großes Auge. Ein Ochsenauge vielleicht ? Jedenfalls war der Künstler nach einem Besuch im Schlachthof der Meinung : Wir Menschen kreuzigen im Grunde auch unsere Nutztiere, wenn wir sie quälen und in Todesangst versetzen beim Schlachten.  Deshalb hat er seinem Christus auch die von uns Menschen gequälte Kreatur mit ans Kreuz gegeben.

Wirklich angenagelt am Kreuz ist nicht Jesus, sondern eine Hose aus Sackleinen. Und zwar, hinten am Kreuz, mit den Hosenbeinen nach oben. Es ist eine Sklavenhose. Sie steht für das Leid, das wir Menschen anderen Menschen angetan haben und bis heute antun. 

Mich erinnert das an einen Satz aus der Bibel. Da steht, dass  Christus uns eines Tages fragen wird, wo wir denn eigentlich waren, als andere neben uns gelitten haben. Und wo wir waren, als sie unsere Hilfe nötig hatten. Und dass er dann sagen wird : «Wahrlich, was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.»( Mt 25.40).

Die gesamte gequälte Kreatur, Mensch und Tier, - sie werden bis heute gequält von uns Menschen. Ans Kreuz genagelt gewissermaßen. Für all ihr Leiden bis hinein in unsere Tage steht der gekreuzigte Jesus. Die moderne Kreuzesdarstellung von Jürgen Goertz hat mir dafür den Blick geöffnet.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21670
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