Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Nicht jeder hat das Glück sehr alt zu werden und dabei noch recht gesund zu sein.
Ich habe in meiner Verwandtschaft so einen Fall. Ein Katholischer Priester Jahrgang 1914. Er hat im letzten Monat seinen 102. Geburtstag gefeiert. Mehr als die Hälfte seines Lebens hat er als Missionar in Afrika verbracht. Jetzt lebt er in einem Altersheim und hat viele Geschichten zu erzählen.
Ein Erlebnis hat ihn selbst tief beeindruckt und er erzählt immer wieder davon:
Seinen 100. Geburtstag hat er vor 2 Jahren im Kamerun gefeiert. Ein 100jähriger ist in diesem Land etwas ganz Besonderes. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt dort gerade mal bei 55 Jahren. Und dann noch ein Mann Gottes! Mütter kamen mit ihren kleinen Kindern, damit er sie segnet. Viele Menschen wollten ihn berühren, ihn anfassen, weil sie sich dadurch selbst ein langes Leben erhofften. Er wurde von den Katholiken gefeiert wie ein Papst. Aber das war noch gar nicht das Beeindruckendste.
Als Missionar war er damit konfrontiert, dass sich die Religionen eher misstrauisch bis feindselig begegnen. Amtsträger und offizielle Vertreter haben immer versucht, die anderen als minderwertig und unvollkommen darzustellen. Ständig kämpften sie um die Gunst der Gläubigen. So hat er das über Jahrzehnte erlebt. Katholiken, Protestanten, Freikirchen, die alten Stammesreligionen, Muslime. In der Vergangenheit ist es vorrangig darum gegangen, Menschen für den jeweils eigenen Glauben zu gewinnen. Heute leben im Kamerun die verschiedenen Religionen nebeneinander.
Der 100jährige ist von einem Stammesführer in seinen Palast eingeladen worden, der gleichzeitig auch Kultstätte und Moschee ist. Der betagte Jubilar hat die Einladung neugierig angenommen, obwohl er die Leute gar nicht kannte und sie ihn nur vom Hörensagen. Schon zu Beginn des Essens wurde er gebeten, die Mahlzeit zu segnen, und am Ende wurde er nochmals aufgefordert die versammelten Gäste zu segnen. Als katholischer Priester war er etwas irritiert, waren doch alle Anwesenden bis auf seine Begleiter entweder Muslime oder Anhänger der Stammesreligion. Aber sie bestanden darauf. Er segnete alle „im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Es entstand eine ehrfürchtige Stille – dann tosender Applaus. Er sagt heute: „So sehr wie in diesem Moment habe ich selten in meinem Leben die Gegenwart Gottes gespürt.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21623
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