Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Als Jugendlicher in den 70er Jahren hat mich ein Film von Rainer Werner Fassbinder tief beeindruckt und auch etwas verstört muss ich gestehen. Die Geschichte geht so: München, es regnet. Eine ältere Frau betritt eine orientalische Bar. Sie ist neugierig. Ein wesentlich jüngerer Mann fordert die Frau zum Tanzen auf. Sie unterhalten sich. Er ist Marokkaner, sie Witwe. Er begleitet sie nach Hause. Sie haben Gefühle füreinander. Das ungleiche Paar heiratet schließlich. Die Nachbarinnen lästern, die Kolleginnen schneiden die Frau, der Lebensmittelhändler weigert sich, die beiden zu bedienen, die erwachsenen Kinder der Witwe sind fassungslos. Verzweifelt darüber bricht die Frau in Tränen aus. Sie beichtet ihrem Mann ihre Angst. Dieser sagt: „Angst nix gut, Angst essen Seele auf“. Für mich klang das damals wie eine biblische Botschaft: Ich kannte ähnliche Worte aus dem Evangelium: „Fürchtet Euch nicht! Habt keine Angst“ sagt der auferstandene Jesus zu seinen Jüngern. Und sie beginnen zu glauben, an das Leben, dass es weitergeht. Sie schöpfen Hoffnung, stärken sich gegenseitig und bekommen Mut. „Angst nix gut, Angst essen Seele auf“.
Im Film wirken diese Worte ähnlich. Die Geschichte bekommt eine Wende: Das ungleiche Paar gewinnt Selbstvertrauen und wird dann doch akzeptiert, wenn auch aus Eigennutz: Der Lebensmittelhändler will seinen Umsatz; die Kinder brauchen die Oma als Babysitterin; die Nachbarinnen können einen starken Mann im Haus gebrauchen. Dabei stellen sie fest, dass der Marokkaner so gar nicht dem Klischee vom schmutzigen, faulen Ausländer entspricht.
Der Film ist einerseits gefühlvoll und dramatisch. Andererseits zeigt er distanziert und kühl, wie Minderheiten in Deutschland ausgegrenzt und unterdrückt werden. Heute ereignet sich dasselbe leider immer noch, über 40 Jahre nachdem Fassbinder „Angst essen Seele auf“ erzählt hat. Menschen haben Angst. Rechtschaffene Bürger werden aus Angst ausländerfeindlich. Angst bestimmt das Wahlverhalten. Angst treibt verunsicherte Menschen auf die Straße und lässt sie dumme Parolen skandieren. Auch gläubige Christen vergessen, dass übertriebene Angst ein schlechter Ratgeber ist und unmenschlich machen kann. Und was besonders schlimm ist: auch die Menschen, die aus Angst nach Deutschland flüchten um Schutz zu finden, auch die müssen hier wieder Angst um ihr Leben haben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21620
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